Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
wirkte Glynis merklich dankbar, sich einem Leiden hingeben zu können, das nicht ihr eigenes war. Seit Ankunft der Burdinas hatten Carol und sie nur aufgehört zu reden, um sich in den Arm zu nehmen. Endlich das Gefühl zu haben, nützlich zu sein, und wenn auch nur als Carols Vertraute, schien Glynis’ Lebensgeister zu wecken. Das Timing war günstig. Er hatte vor, sich ihrer ganzen Kraft zu bedienen für eine anstrengende Reise, die morgen Nachmittag beginnen und mehr als einen ganzen Tag dauern würde.
Andererseits könnte es keine schlimmere Reise mehr geben als die weitaus kürzere, die er am Freitagmorgen nach der Ankunft von Carol und den Mädchen hatte machen müssen. Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass ihm Carol reichlich Gelegenheit gab, sich davor zu drücken – sie könne sich neue Sachen kaufen und neue Rezepte holen, sagte sie –, aber er hatte es ihr versprochen.
Mit einer detaillierten Liste der lebenswichtigen Habseligkeiten der Burdinas nebst deren Standort hatte Shep an jenem Vormittag geschlagene zwanzig Minuten hinter dem Steuer seines Wagens gesessen, ohne den Motor anzulassen. Er war eigentlich kein Mensch, der lange zauderte. Aber er wollte nicht. Für den Großteil der zwanzig Minuten hatte sich das Nichtwollen in ein Nichtkönnen verwandelt: in ein Nichtfahren. Er war außerstande, den Motor zu starten. Stimmt schon, in allen anderen Dingen hatte er sein Pflichtbewusstsein aufgegeben: gegenüber seiner Firma, gegenüber seinem Land und sogar – indem er einen Firmenvorstand betrogen hatte, der, was immer seine Vorgänger vor dreißig Jahren fabriziert hatten, eigentlich unschuldig war – gegenüber seinem eigenen Gewissen. Seine Freunde jedoch waren die Ausnahme. Er glaubte inzwischen nur noch an wenig, aber daran hielt er fest. Wenn er diese belastende Aufgabe in winzige, machbare Einheiten teilte – Rückwärtsgang rein, Auffahrt runter, rechts den Blinker sitzen, einmal um den Golfplatz herum, rauf auf die 287 –, wäre es bald geschafft, und in diesem mechanistischen Sinne ließ er den Wagen an.
An der Haustür in der Windsor Terrace donnerte Sheps Herz gegen sein Trommelfell, und ein Adrenalinstoß löste Schwindel und leichte Übelkeit aus. Trotz seines Beruhigungsmantras wollten ihm seine Organe nicht glauben, dass es nichts gab, wovor er Angst haben musste. Er kam sich vor wie in einem Horrorfilm auf der falschen Seite des Bildschirms. Nachdem er die Tür der verglasten vorderen Veranda aufgeschlossen hatte, stand er mit dem Seesack zur Plünderung bereit und starrte mit wildem Blick zu Boden. Neben seinem Schuh prangte der schmale Fußabdruck eines Frauenschuhs auf dem blauen Linoleum. Der Abdruck war rostbraun. Es gab kein Entrinnen vor dem, was sich hier abgespielt hatte, nicht mal, indem man zu Boden starrte.
Er hob den Blick und betrat das Wohnzimmer. Gegenüber war der Kücheneingang mit gelbem Polizeiband behelfsmäßig abgesperrt. Die Treppe zu den Schlafzimmern und zum Arbeitszimmer, wo die meisten der Sachen auf Carols Liste zu finden waren, befand sich zu seiner Linken. Also bräuchte er die Küche weder zu betreten noch einen Blick hineinzuwerfen. Einen Moment lang blinzelte er und kniff die Augen zusammen, sodass die gegenüberliegende Küche verschwommen blieb. Angst machte einem aber nur das, was man noch nicht hinter sich gebracht hat. Er würde befreiter zu Werke gehen, wenn er sich dem Anblick der Küche stellte. Allein schon aus Loyalität war es geboten, sich mit dem Unglück seines Freundes in seiner ganzen Wucht zu konfrontieren.
Er trat vor das Absperrband. Sonnenlicht strömte höhnisch durch die Fenster und sorgte dafür, dass ihm nur ja nichts entging: Ein Haufen Spachtel, Kellen und Metallspieße lag auf merkwürdige Weise über das Linoleum verteilt, das Jackson vor zehn Jahren zu verlegen geholfen hatte. Auch eine Schublade lag auf dem Boden; eine zweite stand offen. Ein Messerschleifer und ein schweres Sabatier-Hackmesser auf dem Küchentisch, beides so rotbraun eingetrocknet wie der Fußabdruck auf dem Boden – als wäre es dort liegen gelassen worden, um vor sich hin zu rosten, obwohl Jackson Burdina trotz seiner schlampigen Seite immer Respekt vor Werkzeugen gehabt hatte. Ein dickes hölzernes Schneidebrett, das normalerweise auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank lehnte, jetzt aber auf dem Tisch lag und in dieselbe unerfreuliche Farbe getaucht war. Carol musste ihm irgendetwas verschwiegen haben.
Ansonsten entsprach der
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