Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Patriarch lag im Bett und döste. Shep tröstete sich, dass ein so magerer Mann zumindest leicht zu tragen sein würde. Er flüsterte seinem Vater ins Ohr: »Hey, Papa, wach auf.«
Als der alte Mann die Augen aufschlug, wurden sie noch größer, und mit der gleichen verblüffenden Kraft, mit der Glynis ihn vor drei Tagen von sich gestoßen hatte, schlang er die Arme um seinen Sohn. »Shepherd!«, krächzte er. »Ich hatte schon Angst, ich würde dich nie wiedersehen!«
Sanft befreite sich Shep aus der Umklammerung seines Vaters. »Schh. Jetzt hör zu. Wir müssen den Ball flach halten. Soweit die Schwestern wissen, mache ich mit dir nur einen kleinen Ausflug, okay? Aber ich möchte jetzt, dass du dir genau überlegst, was du dabeihaben musst. Du wirst nämlich gleich entführt.«
»Du meinst … wir kommen nicht zurück?«
»Nein. Kannst du damit leben?«
»Damit leben?« Gabe umarmte ihn erneut. »Mein Junge! Vielleicht gibt es ja doch einen Gott!«
Während er leise ein paar Kleidungsstücke zusammenpackte und die Pillenfläschchen vom Schreibtisch einsammelte, murmelte Shep, dass sie »vorher« zurück nach Elmsford fahren müssten.
Sein Vater wollte gerade seine dünnen Beine über die Bettkante schieben, doch er hielt inne. »Aber was ist mit Glynis? Die zehn biblischen Plagen sind nichts gegen deinen Vater. Das hast du doch selbst gesagt. Ich darf meiner Schwiegertochter nicht zu nahe kommen. Du hast mich gewarnt, dass ich sie umbringen könnte.«
»CDiff? Wenn wir hier schon biblisch werden, dann ist Glynis inzwischen bei der Offenbarung angelangt. Mit ihr geht es zu Ende. Ein paar biologische Waffen mehr oder weniger spielen jetzt auch keine Rolle mehr.«
»Bist du sicher?«
»Ich … ich hab so was ja noch nie gemacht. Du hast es unzählige Male in deiner Gemeinde erlebt. Wir könnten deine Gesellschaft gut gebrauchen. Ich könnte deinen Rat gebrauchen.«
»Meinen Rat? In welcher Sache?«
Shep holte Luft. »Wie ich meiner Frau beim Sterben helfe.«
ALS SHEP AUF der langen Fahrt zurück nach New York seinen Vater über die bevorstehende gemeinsame Afrikareise in Kenntnis setzte, blieb der alte Mann gelassen – und bemerkte nur mit dem typischen Knacker’schen Pragmatismus, dass leider sein Reisepass abgelaufen sei. (Shep erklärte, dass die Firma It’s Easy, Inc., in Midtown für einen gewissen Obolus einen Antrag auch über Nacht bearbeiten könne, und als sein Vater nach der Summe fragte, sagte Shep mit seligem Lächeln: »Das ist mir völlig egal.«) Der Sommer in Kenia damals hatte dem »dunklen Kontinent« wohl seinen Schrecken genommen. Insofern schien Sheps Vater die anstehende Reise nicht im Geringsten zu bekümmern; Hauptsache nicht zurück ins Pflegeheim. Die Singgruppe hatte ihn offenbar nicht überzeugt.
Shep fragte sich, ob er sich von Beryl hätte verabschieden müssen. Der Vorschlag, ihren Vater in ein wenige Meilen entfernt liegendes öffentliches Heim einweisen zu lassen, hatte ihren Zorn erregt; dass ihr Vater nach Afrika entführt werden sollte, hätte sie zur Weißglut gebracht. Außerdem hatte sie ihm nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, was sie von den Ambitionen ihren Bruders in puncto »Jenseits« hielt. Da nun immerhin das Pflegeheim die Finanzen der Familie nicht mehr nekroseartig aufzufressen drohte, konnte sie das Haus behalten. Wenn das nach einer großzügigen Belohnung für wenig großzügiges Verhalten aussah, war nach Sheps Erfahrung das Haus seiner Kindheit mehr Fluch als Segen. Und selbst wenn die Erinnerung an Vergangenes nicht ihren üblichen lähmenden Einfluss geltend machte, würde Beryl die drei hohen Etagen in der Mt. Forist Street spätestens dann weitaus weniger als Jackpot empfinden, wenn sie die Heizkosten selbst zahlen musste.
Mehr als einmal musste die Fahrt für Toilettenpausen unterbrochen werden. Nachdem er seinen Vater zur Männertoilette einer Tankstelle halb getragen hatte, stützte Shep ihn mit einem Arm und zog ihm mit der anderen Hand die Schlafanzughose über den Hintern – worin er durch die ähnlich uneigenständigen Phasen seiner Frau zum Experten geworden war. Er ließ seinen Vater bei geschlossener Kabinentür sein Geschäft verrichten, wobei die vermeintliche Privatsphäre nicht von Dauer war. Die Zusicherung seines Vaters, das Abwischen selbst erledigen zu können, entpuppte sich als Übertreibung, und natürlich bedurfte es einer erneuten Hilfe, die Pyjamahose wieder hochzuziehen. Im Nahen Osten galt es als ultimative
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