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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Mutter gewechselt, was Carol eigentlich hätte glücklich stimmen müssen angesichts dessen, was sie sagte, wenn sie dann doch etwas sagte.
    »Er wollte nur ein bisschen Anerkennung«, sagte Flicka mit wütendem nasalem Knurren. Sie hockte in der Ecke der Wohnzimmercouch, während Carol steif im entferntesten Sessel saß. »Er hat sich so viel Mühe gegeben, Sachen zu lernen und über Sachen nachzudenken und nicht einfach nur irgendein lahmarschiger Handwerker zu sein. Er hat doch gesagt, er hat das Wort immer gehasst, und du hast es trotzdem ständig benutzt: Handwerker, Handwerker, Handwerker! «
    »Liebling, ich freue mich, dass du stolz bist auf deinen Vater, und das sollst du auch sein«, sagte Carol mit unbeugsamer Selbstbeherrschung. »Aber wenn ich ihn hin und wieder ›Handwerker‹ genannt habe, dann lag das daran, dass es kein anderes Wort für das gibt, was er nun einmal war. Wobei das kein Grund zur Beschämung ist.«
    »Du hast ihn nie beachtet! Er wollte irgendwas, und du hast ihn einfach ausgeschalte t. Meinst du, er hätte das nicht gemerkt? Wenn das Radio läuft, hörst du genauer zu. Sogar bei der Werbung!«
    »Dein Vater hat manchmal geredet, anstatt etwas zu sagen. Ich garantiere dir, wenn er etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hatte, habe ich ihm zugehört. Sehr genau sogar.«
    »Du meinst, was dir wichtig war. Und nichts, was ihm wichtig war, war dir wichtig! Kein Wunder, dass Papa sich umgebracht hat! Jeden Tag hast du ihm das Gefühl gegeben, nutzlos zu sein und langweilig und blöd !«
    Stumm ließ Carol den Kopf sinken, bis ihr die Tränen übers Kinn rannen und auf die Hände tropften – jene Art langsames, beständiges Tröpfeln, mit dem ein Handwerker seine liebe Mühe gehabt hätte.
    »Süße«, sagte sie schließlich und sah wieder zu Flicka hoch. »du bist nicht die Einzige, die ihren Vater verloren hat. Du bist nicht die Einzige, der es nicht gut geht. Ja, du hast eine genetische Krankheit. Aber das heißt noch lange nicht, dass du sagen kannst, was du willst – wenn es keinem nützt, nichts bringt und einfach nur wehtut. Es tut mir leid, dass du FD hast. Du musst aber trotzdem Rücksicht nehmen.«
    Es war jene elterliche Strenge, der Flicka aus Angst vor der Notaufnahme allzu lange beraubt worden war. Flicka schloss sich ihrer wortlos weinenden Mutter an und begann zu schluchzen, wenn auch ohne Tränen. Wenn sie Gefühle zeigte, weinten ihre Augen nicht; sie entzündeten sich.
    »Es ist nicht deine Schuld, sondern meine«, presste das Mädchen zitternd hervor. »Ich hab doch immer wieder gesagt, es lohnt sich nicht, weiterzumachen. Ich hab doch immer gesagt, es ist gar nicht so toll, hier zu sein. Ich glaube, er hatte das von mir.«
    Carol ging hinüber zum Sofa und schloss Flicka in die Arme. »Schh. So etwas denken wir alle hin und wieder. Du bist da nicht die Erste. Aber so viel lass dir gesagt sein, meine Süße: Ich glaube, eine der Hauptgründe, warum er uns verlassen hat, ist folgender. Er hatte Angst, dass dir etwas passiert, und die Vorstellung konnte er nicht ertragen. Diese Welt ohne dich hätte er nicht ertragen können. Er hat dich so geliebt, Schätzchen, mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst, und es war nicht sehr mutig von ihm, nicht mal sehr nett. Aber wenn jemand etwas aus Liebe tut, muss man nachsichtiger sein. Denn ich glaube, er konnte nicht mit ansehen, wie sich dein Zustand verschlechtert. Ich glaube, er wollte der Erste sein, der geht.«
    AM NÄCHSTEN SAMSTAGMORGEN warf Shep ein paar Decken auf seinen Rücksitz. Er gab Glynis in Carols Obhut und machte sich auf den Weg nach Berlin.
    Er hatte Angst, auf Widerstand zu stoßen. Er war es nicht gewohnt, seinem Vater Anweisungen zu geben, und ältere Menschen hatten ja bekanntlich gegen jedwede Veränderung etwas einzuwenden. Auf der Fahrt nach Norden musste sich Shep vor Augen halten, dass ein Pflegeheim kein Gefängnis war. Wobei er bestimmt gegen irgendein hausinternes Gesetz verstieß, wenn er sich ohne einen Stapel Papierkram mit einem der Schutzbefohlenen davonmachte. Egal, in welchem Maße er gegen die Vorschriften verstieß, allmählich fand er Gefallen daran.
    Am Empfang informierte er die Schwester, dass er seinen Vater auf eine »Exkursion« mitnehmen werde. Sie runzelte die Stirn. »Er ist ziemlich geschwächt. Und es ist eklig da draußen. Sieht nach Schnee aus.«
    »Keine Sorge«, sagte Shep. »Da, wo ich meinen Vater hinbringe, ist es sehr, sehr warm.«
    Der kläglich abgezehrte

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