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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Anblick dem, worauf er seelisch vorbereitet gewesen war, wobei es Dinge gab, auf die man sich nicht vorbereiten konnte. Wie hätte er beim Verlegen des Linoleums ahnen können, dass Jacksons Wahl eines Bodens in der Farbe »Blauer Mond« mal einen so atemberaubenden Kontrast zu den festgetretenen Spritzern und Lachen abgeben würde. Auch Carol hatte beim Nähen der cremefarbenen, mit blassen Kornblumen gesprenkelten Gardinen nicht ahnen können, dass sie einmal als Leinwand für das Rorschachbild der Verzweiflung ihres Mannes würden herhalten müssen. Denn es war überall – als hätte jemand einen blubbernden und zischenden Topf Tomatensauce auf dem Herd vergessen. Unter dem Tisch war es zu einer trüben Pfütze erstarrt, und ein einsames getrocknetes Rinnsal zog sich schlängelnd unter den Kühlschrank, dorthin, wo der Boden unmöglich zu reinigen war. Die Spritzer und Lachen waren stumpf und nachgedunkelt; ein leuchtenderer, glänzenderer Anblick hatte Carol vermutlich beim Betreten des Hauses begrüßt. Noch in der Tür, sagte sie, habe sie sich buchstäblich auf Flicka gestürzt und das Mädchen auf die Veranda gezerrt, aber zu spät.
    Es war eine Pilgerfahrt. Er konnte hier nichts erfahren bis auf das, was nun mal passiert war, aber es war eine Information, die Shep hatte verinnerlichen müssen.
    Er ging mit dem Seesack nach oben, um ihn mit Schulbüchern und Kleidungsstücken zu füllen. Er sah den Aktenschrank in Carols Arbeitszimmer durch, fand die Testamente und Versicherungspolicen, um die sie ihn gebeten hatte; mit einem Instinkt, der ihn im Nachhinein selbst beeindruckte, hatte er außerdem eine kleine Mappe gegriffen: die Reisepässe der Familie. Auch aus Flickas Handysammlung steckte er ein paar ausgewählte Exemplare ein, obwohl auch sie darum nicht gebeten hatte. Fortwährend fühlte er sich verfolgt, von hinten beäugt, und er schrak zusammen, als ein Kleiderbügel von der Stange fiel und ihm kurz darauf das Netzteil von Carols Computer auf die Dielen knallte. Als er endlich wieder an der Haustür war, drehte er den Schlüssel im Schloss nicht etwa deshalb herum, um Einbrecher auszusperren, sondern um irgendetwas im Haus einzusperren. Die beißende weiße Februarluft hatte etwas Reinigendes, und er nahm tiefe Atemzüge, trank gewissermaßen durstig die Luft.
    Als heilsame Geste verzichtete Shep auf die mautfreie Brooklyn Bridge und nahm den weniger verstopften Battery Tunnel. Nach seiner nächsten Besorgung würde er sich die Maut ohnehin leisten können. Durch die Straßen von Lower Manhattan zu fahren rief unweigerlich die Erinnerung an Jackson und seine Tirade gegen die großflächige Vereinnahmung der Parkplätze durch die Oberherren des Stadtteils wach. Um ihm Tribut zu zollen, stellte er sein Auto eigens im Parkverbot ab, um ein Strafticket zu riskieren. Auch das konnte er sich jetzt leisten.
    In Rick Mystics Büro am Exchange Place unterschrieb er den Geheimhaltungsvertrag. Unglaublicherweise versprach Mystic, dass er Forge Craft tatsächlich dazu bewegen könne, bis Montag den Scheck auszustellen. Diese Leute hatten es so eilig, dass es fast den Eindruck machte, als hätten sie das niederschmetternde Gespräch mit Philip Goldman gestern belauscht. Passenderweise wurde Shep in diesem Moment bewusst, dass es ihm unmöglich sein würde, auch nur vierundzwanzig Stunden länger »noch ein« Geheimnis vor Glynis zu haben. Die Prognose ihrer verbliebenen Lebenserwartung saß ihm in den Eingeweiden wie ein Nierenstein.
    Erstmals gekommen war ihm die Idee am Vorabend während des Telefonats mit Mystic, als der ihm das Zahlungsangebot unterbreitete: Sein Notgroschen für das Jenseits war auf wundersame Weise wiederhergestellt. Mit jeder zähen Meile heimwärts durch den grauenerregenden Freitagabendverkehr hatte sich ein spontaner Einfall endgültiger in einen festen Schlachtplan verwandelt.
    BEI DER SZENE, auf die er traf, den Seesack über die Schulter geschlungen, tat ihm Carols Familie leid, dass sie keinen privaten Ort hatte, um ihre Wunden lecken – oder aufreißen – zu können, ohne dass ihr eine andere Familie dabei zusah. Dennoch wäre es albern gewesen, in der Diele auf dem Absatz kehrtzumachen; er war hier zu Hause.
    Schon lange war Flicka mit Carol ungeduldig gewesen und hatte die mütterliche Fürsorge als Belastung empfunden, aber seit ihrer Ankunft hier war das Mädchen regelrecht kaltschnäuzig geworden. Bis auf diese oder jene logistische Bitte hatte sie kein Wort mit ihrer

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