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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Samthandschuhen anzufassen. Seitdem hatte sie Modelle für die Firma Living in Sin hergestellt, einem besseren Chocolatier mit Fabrik im nahe gelegenen Mount Kisco. Diesen Monat rüstete sich die Firma bereits für das Ostergeschäft. Statt also Avantgardebesteck fürs Museum zu polieren, schnitzte seine Frau kleine Wachshäschen, die – passenderweise – mit Bitterschokolade ausgegossen wurden. Es war ein Teilzeitjob ohne Leistungen. Ihr Gehalt trug lächerlich wenig zur Haushaltskasse bei. Aus Gehässigkeit behielt sie den Job.
    Und er gestattete ihr aus Gehässigkeit, den Job zu behalten.
    Es war nicht schön, systematisch für etwas bestraft zu werden, was ihm doch eigentlich ein Minimum an Dankbarkeit hätte bescheren müssen. Glynis beklagte ihre Abhängigkeit; sie empfand sie als entwürdigend. Sie beklagte, dass sie keine gefeierte Kunstschmiedin war, und sie beklagte, dass ihr Status als berufliche Null offenbar für alle, einschließlich sie selbst, als selbst verschuldet zu erkennen war. Sie beklagte, dass ihre beiden kleinen Kinder ihre ganze Energie absorbiert hatten; und als die Kinder dann nicht mehr klein waren, beklagte sie, dass sie ihre Energie nicht mehr genug absorbierten. Sie beklagte, von ihrem Mann und den mittlerweile gnadenlos anspruchslosen Kindern dessen beraubt worden zu sein, was sie am meisten geschätzt hatte – ihrer Ausflüchte. Da der Unmut eine Art seelisches Sodbrennen darstellte, beklagte sie das Beklagen selbst. Der Umstand, dass sie nie genug Grund zum Klagen gehabt hatte, bildete einen weiteren Anlass zur Verdrossenheit.
    Vom Temperament her neigte Shep dazu, sich glücklich zu schätzen, obwohl er selbst Grund genug zur Klage gehabt hätte. Er sorgte für den Lebensunterhalt seiner Frau und seines Sohnes. Er unterstützte seine Tochter Amelia, obwohl ihr Collegeabschluss schon drei Jahre zurücklag. Er unterstützte seinen alten Vater, ohne dass der stolze Pastor im Ruhestand davon etwas mitbekam. Er hatte seiner Schwester Beryl mehrere Darlehen eingeräumt, die sie nie zurückzahlen würde, und es würden nicht die letzten sein; aber weil es offiziell Darlehen und keine Geschenke waren, würde Beryl ihm niemals danken. Er hatte die gesamten Kosten für die Beerdigung seiner Mutter übernommen, und da es sonst niemandem auffiel, fiel es auch Shep nicht auf. Jedes Familienmitglied hatte eine Rolle zu spielen, und Shep war eben derjenige, der zahlte.
    Er kaufte sich selten etwas, aber er wollte ja auch nichts. Beziehungsweise nur eine Sache. Aber warum gerade jetzt? Wenn der Verkauf von Allrounder schon acht Jahre zurücklag, warum sollten nicht auch neun daraus werden? Wenn heute Abend der richtige Moment war, warum dann nicht auch morgen Abend?
    Weil es Anfang Januar war im Bundesstaat New York und kalt. Weil er schon achtundvierzig Jahre alt war, und je näher die fünfzig heranrückte, desto mehr sah das Jenseits, falls es überhaupt noch dazu kommen sollte, wie die gewöhnliche Frührente aus. Weil seine »bombensicheren« Investmentfonds erst im vorigen Monat den ursprünglichen Investitionswert wieder erreicht hatten. Weil er in seiner idiotischen Unschuld schon seit Jahrzehnten überall seine Absicht kundtat, die Welt von Steuerplanung, Autoinspektion, Verkehrsstau und Telemarketing zu verlassen. (Während sein Publikum gealtert war, hatte sich deren jugendliche Bewunderung hinter seinem Rücken längst in Häme verwandelt. Oder auch nicht hinter seinem Rücken, denn bei Handy Randy genoss Sheps »Fluchtphantasie«, wie Randy Pogatchnik flapsig dazu sagte, beschämenderweise Unterhaltungswert.) Weil er selbst inzwischen die Realität des Jenseits bedenklich in Zweifel zog und weil er ohne Begnadigungsversprechen nicht weitermachen konnte – nein, es ging einfach nicht. Weil er sich selbst wie einem verfluchten Esel eine Möhre vor die Nase gehängt und sich mit der verführerischen Vorstellung endlosen Aufschubs in Sicherheit gewiegt hatte, ohne darauf zu kommen, dass er, wenn er immer morgen fahren könnte, auch heute schon fahren konnte. Es war die reine Willkür dieses Freitagabends, die die Sache so vollkommen machte.
    ALS GLYNIS DIE Haustür aufschloss, schrak Shep schuldbewusst zusammen. Er hatte seinen Eröffnungstext so lange geprobt, und jetzt fehlten ihm die Worte.
    »Bourbon«, sagte sie. »Gibt’s einen besonderen Anlass?«
    Er wollte erklären, dass es eben keinen Anlass gebe, genau das sei ja das Besondere. »Gewohnheiten sind dazu da, um abgelegt zu

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