DIESES MAL IST ALLES ANDERS
einer früheren Phase seiner Unabhängigkeit ereignete, geriet im 20. Jahrhundert drei Mal in eine Auslandsschuldenkrise. Indien ist stolz darauf, der Asienkrise der 1990er-Jahre entkommen zu sein (zum Teil dank massiver Kapitalkontrollen und finanzieller Repression). Tatsache ist jedoch, dass Indien seit Erlangung der Unabhängigkeit drei Mal zur Umschuldung seiner Auslandsschulden gezwungen war, allerdings nicht mehr seit 1972. China erlebte während seiner kommunistischen Ära zwar keine Auslandsschuldenkrise, allerdings kam es sowohl 1921 als auch 1939 zu Zahlungsausfällen.
Infobox 6.2 Lateinamerikas Anfänge auf den internationalen Kapitalmärkten, 1822–1825
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Schuldenaufnahme in den damals gerade unabhängig gewordenen (oder neu gegründeten) lateinamerikanischen Nationen zwischen 1822 und 1825.
Nation
Gesamtwert der in London emittierten Anleihen, 1822–1825 (in £)
Argentinien (Buenos Aires)
3.200.000
Brasilien
1.000.000
Chile
1.000.000
Großkolumbien (Kolumbien,Ecuador, Venezuela)
6.750.000
Mexiko
6.400.000
Peru
1.816.000
Poyais
200.000
Zentralamerika
163.000
Quellen. Marichal (1989) und die Autoren.
Die volatilen und oft chaotischen europäischen Finanzmärkte zur Zeit der Napoleonischen Kriege hatten sich Anfang der 1820er-Jahre beruhigt. Spanien hatte in schneller Folge in Zentral- und Südamerika eine Kolonie nach der anderen verloren, und die legendären Gold- und Silberminen der Neuen Welt standen nun allen offen.
In ihrem unstillbaren Drang nach immer höheren Erträgen ließen sich die Londoner Banker und Investoren von dem Silberfieber mitreißen. Die große Nachfrage in Europa nach Investmentchancen in Lateinamerika – in Kombination mit neuen Staatsführern in Lateinamerika, die dringend Geld zur Unterstützung des Aufbaus ihrer jeweiligen Nation (neben anderen Dingen) brauchten – sorgte für eine massive Zunahme der Kreditvergabe (zumeist) Londons an (zumeist) lateinamerikanische Nationen. 8
Laut Marichal waren Mitte 1825 26 Minengesellschaften an der britischen Börse Royal Exchange notiert. Investitionen in Lateinamerika waren so begehrt wie (die im Jahr 1825 bereits berüchtigten) Südsee-Aktien ein Jahrhundert zuvor. In diesem Klima des »irrationalen Überschwangs« beschafften sich die lateinamerikanischen Staaten in den Jahren von 1822 bis 1825 mehr als 20 Millionen britische Pfund.
»General Sir« Gregor MacGregor, der nach Lateinamerika gereist war und als Söldner in Simon Bolivars Armee gekämpft hatte, ergriff die Gelegenheit, schottische Mitbürger davon zu überzeugen, ihre Ersparnisse in das fiktive Land Poyais zu investieren. Dessen Hauptstadt Saint Joseph (laut Börsenprospekt) verfügte angeblich über »breite Boulevards, kolonnadengesäumte Gebäude und eine Kathedrale mit einer großartigen Kuppel«. Diejenigen, die mutig und geschickt genug wären, den Atlantik zu überqueren und sich in Poyais niederzulassen, würden Sägemühlen errichten und die einheimischen Wälder und Goldminen ausbeuten können. 9 Auch die Londoner Banker waren von den Aussichten auf derartige Reichtümer beeindruckt. Im Jahr 1822 emittierte MacGregor (Fürst von Poyais) in London eine Anleihe über £160.000 zum Verkaufspreis von £80 pro Anteil, der weit über dem Emissionspreis für die erste chilenische Anleihe lag. 10 Der Zinssatz von 6 Prozent war derselbe, der in jener Zeit für Argentinien, Zentralamerika, Chile, Großkolumbien und Peru galt. Vielleicht war es gut so, dass Poyais denselben Kreditbedingungen unterlag wie die real existierenden Staaten, denn Letzere gerieten zwischen 1826 und 1828 allesamt in Zahlungsverzug bei ihren Auslandsschulden – das war die erste lateinamerikanische Schuldenkrise.
Wie Tabelle 6.3 deutlich macht, ist die Behauptung, nur lateinamerikanische Länder und europäische Länder mit niedrigem Einkommen seien im 20. Jahrhundert in eine Schuldenkrise geraten, gelinde ausgedrückt, eine Übertreibung.
Tabelle 6.4 gibt einen Überblick über Europa und Lateinamerika – Regionen, in denen die Länder mit wenigen Ausnahmen im gesamten 20. Jahrhundert unabhängige Staaten waren. Wie in den zuvor aufgeführten Tabellen lässt sich auch hier erkennen, dass Zahlungsausfälle souveräner Staaten in Clustern auftreten, vor allem während der Großen Depression, als weite Teile der Welt in eine Schuldenkrise gerieten, sowie während der Schuldenkrisen der 1980er- und der 1990er-Jahre. Die letzte dieser
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