Diesseits vom Paradies
musste es jemanden geben, der rief: »Du sollst nicht!« Dennoch war es im Augenblick für ihn annehmbar. Er wollte Zeit gewinnen und keinerlei Druck ausgesetzt sein. Er wollte den Baum ungeschmückt lassen, um sich ganz und gar über Richtung und Bewegung seines Neuanfangs klar zu sein.
Der Nachmittag ging von der läuternden Kraft von drei Uhr zur goldenen Schönheit von vier Uhr über. Später durchwanderte er das dumpfe Weh eines Sonnenuntergangs, in dem selbst die Wolken zu bluten schienen, und mit dem Zwielicht erreichte er einen Friedhof. Es roch düster und entrückt nach Blumen, der Geist des Neumonds stand am Himmel, und überall waren Schatten. Einer plötzlichen Regung folgend, überlegte er, ob er versuchen sollte, die Tür einer rostigen eisernen Gruft zu öffnen, die seitlich in einen Hügel eingelassen war; einer völlig leeren Gruft, überwachsen von welkenden, traurigen wässrig-blauen Blumen, die toten Augen entsprossen sein mochten, sich klebrig anfühlten und ekelhaft rochen.
Amory wollte »William Dayfield, 1864« empfinden.
Er fragte sich, warum Gräber in den Menschen ein Gefühl der Vergeblichkeit erweckten. Irgendwie konnte er nichts Hoffnungsloses daran finden, gelebt zu haben. All die [407] zerborstenen Säulen und gefalteten Hände und Tauben und Engel bedeuteten romantische Erlebnisse. Ihm gefiel die Vorstellung, dass in hundert Jahren junge Menschen sich fragen würden, ob seine Augen braun oder blau gewesen waren, und er hoffte leidenschaftlich darauf, dass sein Grab ein Fluidum längst vergangener Zeiten haben würde. Es schien seltsam, dass aus einer ganzen Reihe von Gräbern der Unionssoldaten zwei oder drei den Gedanken an tote Liebe und tote Liebende in ihm weckten, obwohl sie doch genauso aussahen wie alle anderen, bis hin zu dem gelblichen Moos.
Lange nach Mitternacht kamen die Türme und Spitzen von Princeton in Sicht, hier und da mit einem spät noch brennenden Licht – und plötzlich erscholl aus der klaren Dunkelheit der Klang von Glocken. Wie ein endloser Traum hielt er an; der Geist der Vergangenheit schwebte über einer neuen Generation, der auserwählten Jugend aus der verworrenen, unreinen Welt, die immer noch mit romantischer Nahrung aus Irrtümern und halbvergessenen Träumen toter Staatsmänner und Dichter gefüttert wurde. Hier war eine neue Generation, und sie stieß die alten Rufe aus, lernte die alten Überzeugungen, durchträumte lange Tage und Nächte; und war schließlich dazu bestimmt, in diesen schmutzigen grauen Wirbel hinauszugehen, um dem zu folgen, was Liebe oder Stolz ihnen eingaben; eine neue Generation, die sich mehr noch als die letzte der Furcht vor Armut und der Heiligung des Erfolgs hingab; die aufgewachsen war, um herauszufinden, dass alle Götter tot waren, alle Kriege ausgefochten, alle Überzeugungen im Menschen erschüttert…
[408] Amory bedauerte sie, doch nicht sich selbst – Kunst, Politik, Religion, was immer sein Betätigungsfeld werden sollte, er wusste, dass er nun unangreifbar war, frei von aller Hysterie – er konnte annehmen, was annehmbar war, umherschweifen, wachsen, rebellieren, viele Nächte lang tief schlafen…
Es war kein Gott in seinem Herzen, das wusste er; seine Vorstellungen waren noch sehr verworren; für immer würde die Erinnerung schmerzen; die Trauer um seine verlorene Jugend – doch die Fluten der Ernüchterung hatten eine Schicht auf seiner Seele zurückgelassen, ein Gefühl der Verantwortung und eine Liebe zum Leben, das schwache Aufleben alter Ambitionen und unverwirklichter Träume. Doch – ach Rosalind! Rosalind!
»Bestenfalls ist alles ein armseliger Ersatz«, sagte er traurig.
Und er konnte nicht in Worte fassen, warum es den Kampf lohnte, warum er beschlossen hatte, das Äußerste aus sich und dem Erbe herauszuholen, das ihm von all jenen Persönlichkeiten geblieben war, die je seinen Weg gekreuzt hatten…
Er reckte die Arme zum kristallklaren, strahlenden Himmel.
»Ich kenne mich«, rief er. »Aber das ist alles –«
[409] Diesseits vom Paradies –
F. Scott Fitzgeralds gefeierter Erstling
Der Roman, mit dem der dreiundzwanzigjährige F. Scott Fitzgerald im März 1920 die literarische Bühne betritt, ist ein höchst bemerkenswertes Buch, und er hat eine bemerkenswerte Geschichte. In mehrerer Hinsicht ist er ein typischer Erstling: ein genialischer, weitgehend autobiographischer Bildungsroman und ein ziemlich waghalsiges Konglomerat von allen möglichen Texten, die der gescheiterte
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