Dinner for One auf der Titanic
Sterlingtree, mit wem könnte sich dieser unappetitliche Zeitgenosse verbünden?«
Patsymoon Sterlingtree zuckte die Achseln.
»Die Anarchisten halten es mit den Geknechteten und Unterdrückten. Vielleicht hat er bei den Heizern Zuflucht gesucht. Unten bei den Kesseln.«
»Interessante Idee«, sagte Finch-Meyers. »Passt aber nicht. Ist eine ganz andere Welt, diese Kohlenhölle da unten. So einer fällt auf, wenn er ans Tageslicht kommt. Es muss jemand aus unserer Mitte sein.«
»Und wie passt der Tiger dazu?«
»Sehen Sie, der muss schließlich gefüttert werden.«
»Vielleicht will der Anarchist das Tier auf die Passagiere hetzen und den Kapitän damit erpressen.«
»Denkbar«, sagte Jessup Finch-Meyers.
Einen ganz ähnlichen Fall hatte er in seiner Mission in der Nähe von Kalkutta erlebt. Da ging es um einen angeblich wilden Elefanten, den man mit einer großen Portion gepfefferter Feigen zur Raserei gebracht hatte .
»Also, diese Raubkatze hat sich äußerst merkwürdig verhalten. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ein paar Pakete von dem Opium im Bauch hatte, das bei dem Einbruch in die Schiffsapotheke entwendet wurde.«
»Deshalb also dieser herzergreifende Singsang?«, fragte Miss Sterlingtree.
An der Tür war ein kaum wahrnehmbares Kratzen zu hören. Finch-Meyers legte einen Finger auf die Lippen.
Patsymoon Sterlingtree griff zur ihrer Handtasche und wühlte darin herum. Mit einem Satz war Finch-Meyers an der Kabinentür und riss sie auf. Der Gang war leer. Litt er jetzt schon an Halluzinationen?
Als er die Tür schloss, entdeckte er auf dem Boden einen Zeitungsartikel und dazu einen Zettel.
Miss Sterlingtree richtete mit aufgerissenem Mund eine Pistole auf ihn.
»Wo um Himmels willen haben Sie dieses Ding denn her?«
»Nur zu unserer Verteidigung, Sir.«
Jessup Finch-Meyers schüttelte den Kopf und zog seine Brille aus der Jackentasche.
»Wollen mal sehen, was wir hier haben.«
Er überflog den Artikel und die beigefügten Zeilen. Plötzlich stieß er einen Pfiff aus.
»Eine unerwartete Wendung. Ganz unglaublich.«
* * *
»James, nach dem Essen wäre ich für eine kurze Unterredung in meiner Suite dankbar. Ich würde gern die Einzelheiten zu meiner kleinen Geburtstagsparty vom 14. auf den 15. besprechen.«
»Das Feuerwerk steht bereit«, grummelte James.
»Bitte?«
»Geburtstag, sehr wohl, Mylady.«
Eitel bis unter die ondulierten Haare. Sie liebte dieses »Mylady«. Dabei war sie nur eine Miss. Verarmter Landadel mit Hang zu Höherem. Nein, falsch, mit Sinn für Geld. Wer wusste schon, ob überhaupt ein Tropfen blaues Blut in ihren Adern pulste. James tippte da eher auf eine Eisbahn, die sich ihre Venen und Adern entlangziehen musste.
Nun, er hatte sich entscheiden müssen. So sehr er sich auch eine Zukunft mit ihr vorstellen konnte, er durfte nicht gestatten, dass sein Leben unter das Joch von Habgier und kalter blauer Berechnung geriet.
Trotzdem, in einigen stillen Momenten fühlte er sich ihr so nah. Immer wenn sie ihre eisige Maske ablegte und ihm zulächelte, für einen Augenblick ihr Herz öffnete. Unvergessliche Augenblicke waren das, und an jeden Einzelnen konnte er sich erinnern. Aber schon im nächsten Augenblick breitete sich wieder dieses überhebliche Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Machte sie sich über ihn lustig?
Wer anders als Miss Sophie konnte das Opium mit dem Abführmittel vertauscht haben? Was für ein Spiel spielte sie da?
Die gefüllten Eierkürbisse standen bereits auf dem Servierwagen. Im großen Saal überprüften die Oberkellner noch einmal die korrekte Anordnung des Geschirrs. Die Geigen der Kapelle stimmten ein Thema aus »Tannhäuser« an. Wagner zum Hühnchen Lyonnaise.
James ließ sich auf einen Stuhl fallen. Wo gehörte er eigentlich hin? Eine Kabine, nein, eine erbärmliche Schlafkoje, die direkt über der Dampfturbine lag. Dazu eine Herrschaft, die sich aus nackter Gier auf undurchsichtige Geschäfte einließ und seine Arbeitskraft in einem Tauschgeschäft verhökerte. Und dann auch noch Opfer eines sexsüchtigen und eigentlich längst verschiedenen irischen Dichters wurde.
Da saß er nun, mitten im Speisesaal der ersten Klasse und doch in eine Nische gerückt, weil sich jeder hier an Bord dieser Tischgesellschaft schämte. Mitten in der feinen Gesellschaft und doch ein Aussätziger. Und weit in der Ferne, der Klondike.
Wenn er nur daran dachte, wie er in allerletzter Minute seine Goldwäscherpfanne vor ihrer Entehrung hatte
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