Dinner für eine Leiche
lebensgefährlich. Was für Hobbys sprachen wohl ältere Leute an?
|261| »Wie wäre es mit etwas Kreativem, zum Beispiel Seidenmalerei oder Restaurierung von Antiquitäten?«
Der waidwunde Blick schlug in bitteren Zorn um.
»Willst du damit sagen, dass ich für alles zu alt bin, was körperlich anstrengend sein könnte?«
Der drohende Unterton war nicht zu verkennen. Lindsey ruderte mit aller Kraft zurück.
»Natürlich nicht, Großmutter.«
»Und nenn mich nicht Großmutter. Nenn mich Gloria. Ich möchte, dass mich alle ab sofort Gloria nennen, nicht Großmutter, nie wieder«, keifte sie.
Den Rest des Nachmittags versuchten alle, sie wie ein rohes Ei zu behandeln, wenn sie ihr begegneten. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung war zu vernehmen, als sie endlich in ihre eigene Wohnung zurückkehrte.
»Ich habe so ein schlechtes Gewissen«, sagte Lindsey später zu ihrer Mutter, nachdem sie ihr von diesem Gespräch berichtet hatte. Sie machten gerade zusammen das Bett in Zimmer 16. Das Paar, das dort übernachtet hatte, war auf Flitterwochen und hatte die Zeit für das Auschecken verschlafen. Na ja, das hatten die beiden jedenfalls behauptet, aber den Seufzern des Entzückens nach, die von jenseits des »Bitte nicht stören«- Schilds zu hören waren, hatte es wohl nicht am tiefen Schlummer gelegen.
Honey schüttelte den Kopf und versetzte dem Kopfkissen auf ihrer Seite des Bettes ein paar gezielte Fausthiebe.
»Das brauchst du nicht. Sieh es einmal so: Es hätte viel schlimmer kommen können. Stell dir vor, du hättest ihr vorgeschlagen, mit Stricken anzufangen.«
Lindsey hörte auf, das Laken an ihrer Seite glattzuziehen, und warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu.
Honey registrierte schockiert den schuldbewussten Gesichtsausdruck. »Sag bloß, du hast das gemacht!«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur darüber nachgedacht.«
|262| Honey faltete die Hände zum Gebet, erhob die Augen gen Himmel wie eine Heilige. »Dem Himmel sei Dank für solche kleinen Gnaden!«
Es wäre nicht schwierig gewesen, Roland Mead und alles, was mit ihm zu tun hatte, überhaupt nicht mehr zu erwähnen. Die Vergangenheit ruhen zu lassen, das hätte wunderbar funktioniert. Aber leider ließ Gloria Cross das nicht zu. Wenn sie in einer ihrer düsteren Stimmungen war, eilte sie stehenden Fußes ins Hotel. Zum fünften, zehnten, zwanzigsten Mal bekamen ihre Familie, alle Hotelgäste, der Spülmaschinenmonteur, der Gemüsehändler und der Mann, der die Wäsche abholte, jede kleine Einzelheit zu hören. Was ihr widerfahren war. Was sie ihm sagen oder antun würde, wenn sie ihn je wiedersah.
Roland Mead selbst blieb seltsamerweise völlig verschwunden. Kein Anruf, kein Brief, nicht einmal eine Notiz, die einer seiner Lieferwagenfahrer abgeliefert hätte.
Aber er wird sich melden, überlegte Honey. Fragt sich nur, mit welcher Absicht.
Während wieder einmal eine ausführliche Begründung gegeben wurde, warum Roland so ein Mistkerl war, kam Lindsey in den Wintergarten gerannt, wo ihre Mutter, ihre Großmutter und Mary Jane warme Scones mit Sahne und Erdbeermarmelade genossen.
»Er ist am Apparat«, keuchte sie atemlos. »Er möchte mit Großmutter – Entschuldigung, mit Gloria sprechen.«
»Ich nehme an, du meinst damit den Fleischer«, sagte Honey und versuchte so gelassen zu bleiben wie nur möglich. Da die Romanze nun zu Ende war, schien ihr dies angebracht.
Das Geschirr klirrte, als ihre Mutter aufsprang.
»Ich nehme das Gespräch im Büro an. Als Frau braucht man ein bisschen Privatsphäre, wisst ihr.«
Rasch ließ sie den Blick über ihre Tochter, ihre Enkelin und Mary Jane gleiten.
|263| Mary Jane schüttelte betrübt den Kopf. »Manche Frauen lernen nie dazu.«
Es dauerte eine Weile, bis Gloria zurückkam.
Honey wagte es, sich danach zu erkundigen, was los sei. Es machte ihr Sorgen, dass ihre Mutter so seltsam ruhig wirkte – die Ruhe vor dem Sturm.
»Mutter?« Honey schaute ihr in die Augen und bemerkte eine Veränderung in ihrer Miene.
»Er hat aufgelegt. Dann habe ich zurückgerufen, und die Frau im roten Kleid hat mir gesagt, ich sollte mit den Anrufen aufhören. Also habe ich seine andere Nummer gewählt, bin aber nicht durchgekommen. Da war so ein komisches Geräusch, weißt du, als wäre das Telefon abgemeldet.«
Honey wartete mit angehaltenem Atem, traute sich kaum, sich nach dem Befinden ihrer Mutter zu erkundigen. Neuanfang mit Roland oder Rachegelüste? Welches von beiden sollte es
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