Dirigent
winzigen Löffel Honig gegessen«, vertraute er Elias an, »und jetzt hat Mama das Glas versteckt. Wenn ich sie so anbrülle, wie Sie das mit Ihrer Mutter gemacht haben, vielleicht sagt sie mir dann, wo er ist?«
Vorsichtig zog Elias das Tuch aus seinem Mund. »Das lag an den Zahnschmerzen. Normalerweise brülle ich sie nicht an.«
»Der Krieg bringt in den Besten von uns abnormes Verhalten hervor«, sagte Herr Schapran in dem bestimmten, getragenen Ton eines Philosophen. »Wie wär’s mit einem kleinen Schlückchen, damit wir zu Kräften kommen?«
Achselzuckend goss Elias einen ordentlichen Schuss Wodka in einen Becher. Es war zu früh zum Trinken, aber wer mit Olga Schapran verheiratet war, hatte ab und zu eine Erholungspause verdient. Sich selbst und Waleri goss er nur eine winzige Menge in kleine Gläser. Seine Augen tränten, sein Mund brannte, aber er hob tapfer das Glas. »Auf Leningrads beste –«
»Auf Leningrad!« Herr Schapran leerte seinen Becher in einem Zug.
»Auf Leningrad!« Waleri zögerte und blickte aus dem Augenwinkel zu Elias, um zu sehen, wie mutige Männer ihren Wodka tranken.
Elias schluckte das letzte Wort seines Trinkspruchs zusammen mit der Flüssigkeit herunter, die mehr nach Benzin als nach reinem sibirischem Korn schmeckte. Er und Waleri prusteten wie ausgediente Motoren, während Herr Schapran nach der Flasche griff. »Um ein Feuer zu löschen, muss man es erst mal entfachen«, sagte er augenzwinkernd. Er behandelte Elias plötzlich wie einen Kameraden und Ebenbürtigen, was Elias sich zwar nicht gerade gewünscht hatte, aber um sieben Uhr morgens nach einem kleinen Akt des Heldenmuts nicht allzu unangenehm fand.
Er nickte Herrn Schapran zu, wischte sich die unentwegt tränenden Augen und sah die jüngste Vergangenheit mit einer Klarheit, die von seinem Schlafmangel und seinem leichten Schwips herrühren musste. Die Kriegssinfonie! Er war der erste Mensch in der Stadt, der sie hatte hören dürfen, und das hatte ihn verändert. Die Musik war in seinen Körper einmarschiert und hatte ihm Kraft gegeben, seine Entschlossenheit gestärkt.
»Ich bin die Sinfonie.« Er sagte es laut, doch Waleri, derseinen zweiten Wodka zu schnell getrunken hatte, hustete gerade laut, und Herr Schapran schlug ihm auf den Rücken. Die Sinfonie, das bin ich. Die Wörter drangen durch Elias’ glühenden Zahn in sein Zahnfleisch ein und linderten den Schmerz. Schwach vor Dankbarkeit dafür, was Schostakowitsch ihm geschenkt hatte, sank er auf einen Stuhl.
Die Vergangenheit ausbeuten
Es war die Erinnerung an die Datscha, die ihn rettete, ihn an einen Ort zurückversetzte, wo er wieder Töne hören konnte – obwohl er, ganz buchstäblich, seine Ohren verschloss, indem er die für medizinische Notfälle gedachte Watte hineinstopfte. Neuerdings begannen die Luftangriffe bei Morgendämmerung und gingen bis spät in die Nacht hinein weiter. Das ferne Wummern der Artillerie hörte nie auf, wie beständiges Donnergrollen. Selbst in den Brotschlangen zu stehen war gefährlich; immer wieder zwang das Granatfeuer die Leute, in Deckung zu gehen. Leningrad war verwundet: pockennarbige Plätze, löchrige Mauern, zertrümmerte Häuser. Wenn Munitionsfabriken getroffen wurden, kam es zu flammenden Explosionen. Ungeachtet der chaotischen Zustände komponierte Schostakowitsch weiter.
Die Datscha? Sie lag nicht weit von der Stadt entfernt, erschien ihm aber wie eine andere Welt. Er dachte an das Jahr zurück, als er Tatjana Gliwenko kennengelernt hatte, im Sanatorium der Krim. Sie war, was die Franzosen eine jolie laide nannten. Ihr Gesicht konnte einen an Hysterie grenzenden Ausdruck der Freude annehmen, der ihr blässliches Kinn und die hohen Wangenknochen leuchten ließ, bis sie beinahe schön aussah. Wenn er sie beobachtete, fühlte er sich von den Verbänden um seinen Hals zunehmend eingeschnürt. Er fuhr mit dem Finger darunter entlang und spürte nicht so sehr die vertraute Schwellungseiner Tuberkulose, als vielmehr den kühlen weißen Hals des Mädchens, der sich in jenem Moment über einen Teller fader Kohlsuppe beugte. Er wusste, dass er ihre Haut berühren musste, und zwar bald.
Am späten Nachmittag waren sie auf den Turm in Gaspra gestiegen und hatten den purpurnen Rauch betrachtet, der über Aj-Petri hinwegzog. Drei Wochen lang hatten Feuer zwischen Alupka und Simeis gewütet. Als nun sein Arm ganz leicht den der sechzehnjährigen Tatjana streifte, fiel die Langeweile von ihm ab und purzelte den Turm
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