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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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hinunter, um sich mit dem Dunst zu verbinden. Er sehnte sich nicht mehr nach Petrograd, seinen scharfen Winden und dem Nieselregen auf Kopfsteinpflaster. Die Verbindung war sofort da, und sie war gegenseitig. Als Tatjana ihn von der Seite anblickte, war da ein wissender Ausdruck in ihren Augen, von dem sie genauso schmutzig violett aussahen wie der Rauch.
    Sosehr Schostakowitsch sich von Tatjana angezogen fühlte, seiner Schwester gefiel sie nicht. Während er und Tatjana beisammenlagen, eine heimliche Nacht nach der anderen, konnte er hören, wie Maria sich im Nebenzimmer hin und her wälzte und hustete, womöglich spürte sie, dass sich ihr Bruder (immerhin war sie eigens hergekommen, um nach ihm zu sehen) in Schwierigkeiten brachte. Wenn er am Morgen ihre Briefe zur Post trug, schienen sie schwer in seiner Hand zu wiegen. Er blieb hinter ein paar Eichen stehen und öffnete vorsichtig alle Kuverts, die an seine Mutter adressiert waren, um dann Dinge über seine erste Liebe zu lesen, die ihm die Zornesröte ins Gesicht trieben. Während er sich bemühte, seine Mutter nicht zu beunruhigen – die Arsenspritzen hätten »überhaupt nicht wehgetan«, er dürfe seinen Körper schon wieder dem Sonnenlicht aussetzen und erhole sich rasch –, machte Maria ihr absichtlich Angst.
    »Dmitri ist erwachsen geworden«, hatte sie geschrieben. »Er ist braungebrannt und glücklich verliebt.« Ja, dasstimmte. Aber dann las er: »Tatjana Gliwenko ist ein merkwürdiges Mädchen, beinahe kokett.« Und im nächsten Brief: »T. flirtet mit jedem. Ich mag sie nicht.« Er musste seinen ganzen Willen aufbieten, um den Brief wieder zu versiegeln und abzuschicken, doch schon im Alter von siebzehn hatte er Angst, den Lauf des Schicksals zu ändern, und die Zensur von Briefen fiel in diese Kategorie.
    Als der Sommer zur Neige ging und es Herbst geworden war, hatte er mehrere Briefe geschrieben, um seiner Mutter zu versichern, er habe sich seine Keuschheit bewahrt (und das hatte er auch, im Geist). »Ich werde mich nicht ins Verderben stürzen«, versprach er, wenn seine Mutter ihn warnte, das Familienleben könne die künstlerische Begabung auf vielfältige Art gefährden. Nach einem Monat jedoch ließ sich nicht mehr leugnen, dass er bis über beide Ohren verliebt war. Alle sahen es – Maria, Dr. Jelena Nikolajewna und die Krankenschwestern, ganz zu schweigen von seiner Mutter und Tatjana selbst.
    Im darauffolgenden Sommer, als sie zu der Datscha in Repino eingeladen wurden, glaubte Schostakowitsch, ernsthaft verliebt zu sein. Die Einladung stammte von Tatjanas Tante, der die zuversichtlichen Voraussagen der Leningrader Musikprofessoren zu Ohren gekommen waren. Der Verehrer ihrer Nichte sei zu Großem bestimmt, vielleicht ein künftiger Konzertpianist! »Es gibt einen Flügel in der Datscha«, schrieb sie Schostakowitschs Mutter zur Beruhigung. »Er kann weiterhin jeden Tag üben.« Als sie, staubig von der Zugfahrt und dem Fußweg auf einer kleinen, vor Holunderblüten faulig riechenden Straße eintrafen, hatte Tatjanas Tante sie empfangen und ihnen ein schäbiges Klavier gezeigt, auf dem ihr Vater etliche Jahre Volkslieder gehämmert hatte.
    »Es ist da«, sagte sie voller Verständnis, »falls ihr nichts Besseres zu tun habt.« Dann zeigte sie ihnen ihr Zimmer, einen großen leeren Raum im Südtürmchen, mit einerZinnbadewanne in der Ecke und einem riesengroßen Bett in der Mitte. »Alles, was ihr braucht!«, sagte sie und drückte Schostakowitsch einen Schlüssel in die Hand, um dann über die knarrende Treppe zu verschwinden und sie die nächsten vier Wochen in Ruhe zu lassen.
    »Endlich unser eigenes Reich!« Tatjana schleuderte die Schuhe von den Füßen und hüpfte auf der Matratze herum, dass ihre Zöpfe bei jeder Landung hochflogen.
    Obwohl nicht mehr als eine Stunde von der Stadt entfernt, war Schostakowitsch dieser Ort wie eine Insel vorgekommen, abgeschnitten von den Bürden der Pflicht und des Ehrgeizes, die für gewöhnlich so schwer auf seinen Schultern lasteten. Die Nächte in Repino waren freizügig und verführerisch, Tatjanas Lustschreie wie Vögel, die zur Decke emporschwirrten. Jeden Morgen lehnten sie sich, von der Liebe erschöpft, nackt auf das Fenstersims und blickten auf dunstige Felder, seufzende Birken und den dunklen Klotz eines baufälligen Farmhauses am Fluss. Sie aßen Obst und Gemüse aus dem Garten und fütterten sich gegenseitig mit einer an Gier grenzenden Großzügigkeit. Tatjana knackte mit dem

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