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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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eine Uraufführung mit Mrawinski und den Philharmonikern, auch wenn diese sich gegenwärtig zweitausendfünfhundert Kilometer östlich von hier im tiefsten Sibirien befanden.
    Er atmete den Duft von Maxims Haaren ein, und so gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Es war entscheidend, das Adagio unaufhörlich im Kopf zu behalten. Obwohl er seit einer Woche dabei war und womöglich zur Hälfte fertig, stand es keineswegs auf sicheren Beinen. Die Ausrufe seiner Nachbarn regneten darauf herab, verschlammten die Holzbläserakkorde und die schneidende Geigenmelodie des Anfangs. Er hätte es nie zugegeben (außer vielleicht gegenüber Sollertinski), aber er war froh, als zum fernen Donnern der Geschütze das laute Pfeifen der Brandbomben hinzukam und das Geplapper übertönte – und noch froher, als ein Krachen den Keller erschütterte, Putz von der Decke rieseln ließ und dem Gerede ein Ende bereitete.
    »Fällt das Haus jetzt um, Papa?« Maxim drängte sich, vor Angst schnaufend, an ihn.
    »Nein, diesmal nicht«, beruhigte ihn Schostakowitsch, während er mit halbem Ohr auf die Geige lauschte, die sich immer noch hoch über die Bomber und ihre kippenden todbringenden Flügel erhob.
    Sobald das Dröhnen der Flugzeuge verebbt war – und noch bevor Entwarnung gegeben wurde –, ging die Unterhaltung weiter. Zu Schostakowitschs Erleichterung drehte sie sich nun nicht mehr um seine Arbeit oder seinen Geburtstag, sondern um den schrecklichen Stand der Dinge in Leningrad. Mangel an Lebensmitteln, Mangel an Informationen, Mangel an Hilfe aus Moskau: Diese Themen hielten die Bewohner des Bolschaja-Puschkarskaja-Hauses eine Zeitlang beschäftigt. Von allen Stimmen war Irina Barinowas die schrillste und nörgeligste; Schostakowitsch dröhnte der Kopf davon, schlimmer als von der lautesten Bombenexplosion.
    Er tastete nach seinem Notizbuch, bis er merkte, dass er ja nur seine Schlafanzughose und seinen Mantel trug. »Galina«, flüsterte er, »kannst du dir etwas für mich merken?« Galja hatte von allen Menschen, die er kannte, das beste Gedächtnis, was sich besonders dann als nützlich erwies, wenn jemand auf ihn zukam, dessen Name ihm entfallen war – was ziemlich häufig geschah.
    Galina drückte ihm ihr Ohr an den Mund. »Natürlich.«
    »H-und-b-Dissonanz, Umkehrung, Erhöhung um eine Quinte.«
    »H-und-b-Dissonanz. Umkehren, um Quinte erhöhen. Ich hab’s.«
    Und damit ertönte endlich die Entwarnungssirene, die Tür wurde aufgedrückt, und sie konnten alle ins graue Licht hinaustreten und sich zerstreuen, um zu frühstücken.
    »Entschuldige mein Schweigen«, sagte er zu Nina, während er mit dem Löffel in seinem Haferbrei herumrührte,der hauptsächlich aus Wasser bestand. »Ich kann einfach ihr Geschwafel nicht ertragen.«
    »Sie sind stolz auf dich, das ist alles.« Nina schenkte ihnen die dünne schwarze Plörre ein, die sie nach wie vor als Kaffee bezeichneten. »Die meisten haben vorige Woche deine Radio-Ansprache gehört. Sie wollen dir zeigen, dass sie dich unterstützen.«
    »Sie würden mich mehr unterstützen, wenn sie mich in Ruhe ließen. Ich weiß nicht, wie du sie alle erträgst.«
    »Papa, hör auf zu reden – es ist Zeit für deine Geschenke!« Galina platzte fast vor Aufregung. »Was hättest du am liebsten auf der ganzen Welt?«
    Schostakowitsch betrachtete die Dinge vor ihm: einen Teller Räucherspeck, ein großes Stück hartes Schwarzbrot und zwei Zigaretten, die den ganzen Tag reichen mussten, nicht ohne schlechtes Gewissen im Tausch gegen einen Seidenschal ergattert, den Nina ihm auf seiner Konzerttournee 1936 geschenkt hatte.
    »Am allerliebsten hätte ich ein riesengroßes Schweinekotelett vom dicksten Schwein der Welt, serviert mit Steinpilzen und einer weißen sämigen Sauce aus importiertem Käse.«
    Galina ließ den Kopf hängen, und Maxim sah bekümmert aus. Hinter ihnen fuchtelte Nina wild mit den Armen.
    »Nein, nein, das ist natürlich nicht mein allergrößter Wunsch«, korrigierte er sich und starrte seine Frau an, die jetzt ihre Hände scherenartig durch die Luft bewegte. »Am meisten wünsche ich mir ... ähm, etwas von euch Selbstgemachtes?«
    »Wirklich?« Erleichtert rannte Galina zum Schrank und zog eine Rolle Zeitungspapier heraus. »Genau das haben wir für dich. Wie hast du das erraten?«
    Schostakowitsch breitete die beiden Blätter Zeitungspapier aus, die zu schiefen Sternen zurechtgeschnitten waren. Er konnte darauf Fragmente seiner publizierten Rundfunkansprache der vergangenen

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