Dirigent
feinfühligsten Kompositionsassistenten, mit denen er je zusammengearbeitet hatte, seine Meinung würde ihm womöglich weiterhelfen. Unentschlossen hob er die Hand an die Klinke, bevor ihm einfiel, dass er ja seinen Geburtstag feiern sollte. Er ging wieder ans Klavier, sammelte die Notenblätter ein, legte den Stift auf den Stapel und blies die Kerze aus. Dann stolperte er durch das dunkle Zimmer und in seine beginnende Geburtstagsfeier hinein.
Rivalen
Nikolai war so munter, wie er ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Er stand im Probenraum, zog sich die Handschuhe aus und schüttelte die dünnen Hände, damit das Blut besser zirkulierte.
»Das Essen war natürlich nichts Besonderes, wenn man bedenkt, dass es noch vor ein paar Monaten ein Krug-und-Kaviar-Geburtstag gewesen wäre.«
»Was gab es denn? Eine dürftige Handvoll Brot wie überall sonst in der Stadt?« Elias machte unnötige Verrichtungen – klopfte gegen den steinkalten Ofen, als könnte er damit Wärme hervorzaubern, und polierte seinen bereits glänzenden Taktstock.
»O nein!« Nikolais Stimme schien beinahe zu leuchten. »Natürlich war das Essen einfach, es gab vor allem Schwarzbrot und Kartoffeln. Aber Nina Schostakowitsch hatte es irgendwie geschafft, eine Art Preiselbeerkuchen zu backen, und jeder hatte mitgebracht, was er konnte – sogar ein paar Süßigkeiten waren dabei! Und Israel hatte genug Wodka aufgetrieben, um die Newa damit zu füllen.«
Elias sagte nichts. Er sah zu, wie seine Musiker hereingeschlichen kamen, verhärmt vor Kälte und Müdigkeit.
»Hinterher« – Nikolai ließ seinen Bogen in einer Kolophoniumwolke durch die Luft zischen – »nach dem Essen haben wir einen Teil der neuen Sinfonie gehört!«
»Die Schostakowitsch-Sinfonie?« Katerina hatte gelauscht, und nun leuchtete ihr blasses Gesicht auf. »Manche Leute haben einfach Glück!«
Nikolai nickte. »Wir sind in sein Arbeitszimmer gegangen, und er hat nur ganz kurz gezögert, bevor er sich ans Klavier setzte und den ganzen ersten Satz durchspielte, fast ohne auf die Noten zu schauen. Dabei ist er ziemlich lang – mindestens fünfundzwanzig Minuten.«
»Nur den ersten Satz?«, fragte Elias nonchalant. »Ich dachte, er wäre schon weiter.«
»Ich bin ja noch nicht fertig! Als er gerade bei den letzten Takten des Marsches angekommen war, begannen die Sirenen zu heulen, aber er bat uns, zu bleiben und uns den Rest anzuhören. Nina und die Kinder sind in den Luftschutzkeller gegangen, während wir anderen fast alle oben geblieben sind. Die Bomber rasten über unsere Köpfe hinweg, und er spielte weiter, wie besessen! Und so haben wir das Scherzo bis zu seinem wunderschönen Ende gehört.«
Nun verstand Elias den träumerischen Ausdruck in Nikolais Blick und das Lächeln, das um seine Lippen spielte. Eifersucht durchströmte ihn. »Seltsames Benehmen«, sagte er. »Seine Gäste einem solchen Risiko auszusetzen.«
»Er hat das nicht für uns entschieden, wir wollten bleiben. Wie auch nicht?« Nikolai breitete die Hände aus. »Das war lebendige Musikgeschichte. Niemand hat bisher auch nur einen Takt davon gehört!«
»Ist es tatsächlich eine Sinfonie für Leningrad, wie er sagt?« Eine Schar von Begeisterten hatte sich um Nikolai versammelt. »Wird sie in künftigen Jahren unsere Geschichte erzählen?«
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete Nikolai. »Alles, was als Reaktion auf derart extreme Umstände komponiert wird, ist komplex. Aber nach dem zu urteilen, was ich gestern Abend gehört habe, wird es ein außergewöhnliches Werk. Auf jeden Fall ist es ein Wunder, mitten in solcher Not ein sinfonisches Werk von diesem Kaliber zu komponieren – und es auch noch zu spielen, so wie er es gestern Abend getan hat, eine halbe Stunde lang ohne Fehler, während um uns herum ein Luftangriff tobte.«
»Weniger ein Wunder als ein tollkühner Akt«, murmelte Elias. Doch niemand hörte ihm zu.
Nikolai schien vergessen zu haben, dass die Probe vier Minuten zuvor hätte beginnen sollen und dass der wirre Haufen, den das Rundfunkorchester darstellte, in drei Tagen auf internationalen Kanälen zu hören sein würde. »Dmitri ist in schwierigen Situationen immer über sich hinausgewachsen«, fuhr er fort. »Als seine Kommilitonen haben wir das von Anfang an miterlebt, nicht wahr, Elias?«
»Schostakowitsch ist begabt«, sagte Elias herablassend. »Das kann niemand leugnen. Aber er ist sicher auch nicht abgeneigt, sich selbst in Szene zu setzen. Erinnern Sie sich nicht
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