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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Woche ausmachen.»Liebe Kollegen und Freunde ... Vor eine Stunde habe ich den zweiten Teil meines ... ich werde es die Siebente Sinfonie nennen können ... die Gefahren, die Leningrad bevorstehen ... Heute sind wir alle Soldaten ...«
    Er hielt die Blätter vor das Licht. »Die sind ja wunderschön! Der Papierschneider, der früher zu uns ins Haus kam, als ich noch ein Kind war, konnte es nicht besser! Kommt, wir hängen sie sofort auf.«
    Kaum hatten Galina und Maxim ihre Sterne an die schon teilweise verdeckten Fenster geklebt, wurden sie quengelig und müde. Dieser Tage hatten sie oft jähe Energieausbrüche und Anfälle von Zuversicht, die von Angstzuständen gefolgt waren. Schostakowitsch wusste, wie sie sich fühlten. Wenn er gut mit der Sinfonie vorankam, fühlte er sich unbesiegbar; an solchen Tagen weigerte er sich, in den Luftschutzkeller zu gehen, blieb am Klavier sitzen und horchte darauf, wie die Luftwaffe den Himmel zerriss. Doch an weniger erfolgreichen Tagen rannte er zusammen mit den anderen panisch in den Keller, zitternd und schweißüberströmt, mehr als froh über die Dunkelheit.
    »Am besten legen wir uns alle mal eine Weile hin«, sagte Nina, die die Krümel vom Tisch fegte und die Teller abräumte.
    Auch wenn Schostakowitsch sie noch so genau beobachtete, vermochte er nicht zu sagen, wie viel Anstrengung es sie kostete, derart ruhig zu bleiben. Die Warsars hatten schon immer eine Selbstsicherheit zur Schau getragen, die sie auch in den gefährlichsten Situationen unverwundbar erscheinen ließ.
    Auf der Schwelle zum Schlafzimmer drehte sich Galina zu ihm um. »Aber wir haben dir ja unser Gedicht noch gar nicht aufgesagt! Im Keller war es viel zu laut dafür!« Sie winkte Maxim zu sich, und dann standen sie, die Füße ganz parallel zueinander, wie Miniatursoldaten vor ihm. In einem lauten Singsang begann Galina mit dem Vortrag,während Maxims leises Stimmchen ein wenig hinterherhinkte:
    Mama sagt, als kleines Kind,
    da bautest du oft Mist.
    Jetzt bist du größer und ganz brav,
    weil du fast vierzig bist.
    Vierzig! Schostakowitsch zuckte unwillkürlich zusammen. Er griff sich eine seiner kostbaren Zigaretten.
    Galina hob nach einer tiefen synchronen Verbeugung den Kopf. »Ich weiß, dass du erst fünfunddreißig bist. Aber vierzig passte besser ins Versmaß.«
    »Natürlich.« Er legte die Zigarette wieder auf den Tisch. »Danke euch beiden, dass ihr euch so viel Mühe gemacht habt. Es ist ein großartiges Gedicht.«
    Erst als Nina mit den Kindern im Schlafzimmer verschwunden war, fiel ihm ein, dass Galina sich noch etwas ganz anderes für ihn eingeprägt hatte. Wie ging es noch gleich? Er zwang sich, an die Ereignisse des Vormittags zurückzudenken. Das unangenehme Gedränge von Leibern im Keller, den trockenen Staubgeschmack. Die zitternden Wände, die krachenden Explosionen, Maxims krampfhaftes Zusammenzucken und Irina Barinowas an den Nerven sägende Stimme, mit der sie sich über lange Schlangen, die Nutzlosigkeit von Lebensmittelkarten und die zur Hebung der Moral ihrer Ansicht nach nicht geeigneten Teile seiner Radio-Ansprache ausließ.
    Und plötzlich, noch während er im Geist Irinas Stimme hörte, war die Sequenz wieder da. Die hämmernde wiederkehrende Dissonanz von h und b, dann ihre Umkehrung und die Erhöhung um eine Quinte. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass seine Tasse auf der Untertasse klapperte. »Danke, Irina, du grantige alte Hexe!« Müdigkeit und Bedrückung fielen von ihm ab. Er ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür.
    Es war später Nachmittag, als er den Stift aus der Hand legte. Er hob den Kopf, ließ seinen schmerzenden Hals knacken und merkte, dass er kaum noch die Noten erkennen konnte. Seit einer Woche gab es keinen Strom mehr, und seine Augen waren enorm strapaziert. Er zündete eine Kerze an und hielt den kleinen flackernden Lichtschein über seine Arbeit, um noch einmal zu sehen, was er geschafft hatte. Seufzend nahm er den Stift wieder auf – da hörte er aus dem anderen Zimmer lautes Hallo und Gelächter. Einen kleinen verrückten Moment lang erwog er, sich die Ohren zuzustöpseln und weiterzuarbeiten. Jetzt aufzuhören verlangte ihm mehr ab, als sich wieder zu vergraben, um das starke Akkordthema dem unerbittlichen Barinowa-Motiv entgegenzusetzen.
    Er schlich zur Tür und lauschte. War das nicht die näselnde Lache von Israel Finkelstein? Vielleicht konnte er ihn auf einen kurzen Plausch hereinrufen? Israel war einer der

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