Dirigent
herrscht das reinste Chaos. Ich muss für die nächsten Tage von den Proben befreit werden.«
»Muss?« Elias runzelte die Stirn. »Wer gibt Ihnen das Recht, von müssen zu sprechen? Das Einzige, was Sie tun müssen, ist die Arbeit, für die Sie bezahlt werden, sprich, in diesem Orchester zu spielen. Wir haben am Sonntag eine Übertragung! Wo soll ich Ihrer Meinung nach so kurzfristig einen Ersatz herbekommen? Wahrscheinlich gibt es in dieser ganzen verfluchten Stadt keinen zweiten lebenden Oboisten.«
Alexander trat näher, gab sich offensichtlich Mühe, ihn gerade anzuschauen, aber seine Pupillen verrutschten immer wieder so, dass er schielte. »Kommen Sie, Karl. Sie wissen doch, wie es ist, benachteiligt zu sein. Sie und ich, wir sind gleich. Wir mussten uns zu unseren Positionen hocharbeiten. Wir hatten nie Dienstmädchen, keine großen Wohnungen wie Dmitri Schostakowitsch, wir ignorieren andere Menschen nicht, so wie er es tut. Zu hochnäsig,um einem die Uhrzeit zu verraten! Sie und ich müssen zusammenhalten.«
Elias empfand solchen Widerwillen gegen Alexander, dass er Gänsehaut bekam. »Schostakowitsch ignoriert niemanden. Er ist kurzsichtig, nicht hochnäsig. Er ist ... er ist wunderbar.« Wo kamen die Worte her? Nun, da er einmal angefangen hatte, konnte er gar nicht mehr aufhören. »Schostakowitsch ist einer der größten Komponisten, die Russland je haben wird.«
Alexander taumelte. »Aber er ist nicht originell – das haben Sie selbst gesagt. Alle wissen, dass er Material stiehlt, es in den Tiefen seiner fabelhaften Musik verbirgt und hofft, dass niemand es merkt. Das ist nicht wunderbar, das ist einfach dumm!«
Elias wurde schwer ums Herz. Es stimmte – er hatte Schostakowitsch öffentlich verunglimpft. Und das Ergebnis? Der Mann, den er am wenigsten von allen achtete, ergriff seine Partei gegen den Mann, den er mehr bewunderte als jeden anderen. »Schostakowitsch ist ein Meister des Zitats.« Seine Stimme bebte. »Das war schon immer eine seiner Gaben. Und jetzt nehmen Sie Ihren Platz ein. Wir sind ohnehin schon spät dran.«
»Schostakowitsch ist ein Feigling!« Alexander setzte sich nicht, obwohl er stark schwankte. »Er behauptet, er sei hier geblieben, um Leningrad zu verteidigen, aber soll ich Ihnen was sagen? Ende August, als Kosinzew und die Filmstudios ausgeflogen wurden, wollte er eigentlich mit, nur waren die Flugzeuge schon voll. Das weiß ich von meinem Vetter! Pech für Schostakowitsch, dass er zu spät bei den Behörden angekrochen kam.«
Stimmte das? Elias schaute weg und begegnete Nikolais Blick.
Nikolai nickte leicht. »Um seine Kinder in Sicherheit zu bringen«, sagte er über die Köpfe des Orchesters hinweg. »Seine Frau hat darauf bestanden. Dmitri selbst hat sich sehr dagegen gesträubt.«
Diese unerwartete und unerwünschte Information erfüllte Elias mit Zorn. »Er ist weder ein Plagiator noch ein Feigling. Und ich gebe Ihnen nicht frei, Alexander. Wenn Ihre Schwester krank ist, muss sie ins Krankenhaus. Was würde wohl passieren, wenn ich jedem, der einen kranken oder verwundeten Verwandten hat, freigeben würde! Dann hätte ich bald kein Orchester mehr!«
»Meine Schwester hat die Ruhr, Sie gemeiner, herzloser Mensch!«
»Vor zwei Minuten war es noch Diphtherie«, sagte Elias. »Entscheiden Sie sich. Wenn Sie sie schon vor die Pforte des Todes legen, dann sollten Sie wenigstens wissen, mit welcher Krankheit Sie sie umbringen.«
Damit erntete er Gelächter, und Alexander lief knallrot an. »Na schön. Es geht um mich. Ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr – die Luftangriffe, die Bomben, die Kälte. Ich bekomme nicht genug zu essen, ich kann nicht schlafen, ich muss mich ausruhen.«
Elias sah ihn fassungslos an. »Glauben Sie, dass es irgendjemandem in Leningrad anders geht? Haben Sie Schostakowitschs Radioansprache nicht gehört? Ob Künstler oder Artilleristen, im Moment sind wir alle Soldaten – Sie eingeschlossen.«
Ein höhnisches Grinsen breitete sich auf Alexanders Gesicht aus. »Schostakowitsch, Schostakowitsch. Immerzu Dmitri Scheiß-Schostakowitsch. Ich glaube, Sie sind in ihn verliebt. Hört ihr mich, Genossen?« Er wirbelte herum und blickte ins Orchester, wobei seine Oboe laut gegen einen Stuhl krachte. »Habt ihr das gehört? Unser Dirigent ist in den berühmten Komponisten verliebt!«
Elias bekam weiche Knie. »Setzen Sie sich. Setzen Sie sich hin und spielen Sie.«
Doch Alexander lehnte sich an eine Säule und grinste anzüglich. »Sie
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