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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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mehr an sein merkwürdiges Verhalten bei Glasunows Soirée in unserem ersten Jahr am Konservatorium?«Er blickte in die Runde, um sicherzugehen, dass er Gehör fand. »Nachdem ein Foxtrott gespielt worden war, gab Schostakowitsch vor, sich davon beleidigt zu fühlen. Was ihm einen Vorwand lieferte, um das ganze Ding gleich an Ort und Stelle, vor den anderen Gästen, neu zu orchestrieren.«
    Nikolai wirkte erstaunt. »Ja, ich war an dem Abend auch da. Aber er wurde dazu herausgefordert. Daran erinnere ich mich gut.«
    Elias richtete den Blick auf das Bild, das über Nikolais Kopf hing, ein trostloses Ölgemälde aus den 1820er Jahren von der Pantelimonow-Zugbrücke. Seine eigene Stimmung war so schwarz wie das dick gemalte Wasser. »Er hat sein Talent zur Schau gestellt und gezeigt, was er kann – wie ein Zirkuspferd.«
    »Man hat ihn herausgefordert«, sagte Nikolai etwas schärfer. »Was hätte er tun sollen?«
    »Zum Beispiel nein sagen?« Elias trat gegen seinen Stuhl, sodass auf dem schon zerkratzten Boden eine weitere Schramme entstand. »Das war sein Problem – es ist sein Problem. Schostakowitsch sagt nie nein.«
    Die Musiker, die Nikolais Schilderung vorübergehend animiert hatte, verstummten wieder. Mit hängenden Schultern schlichen sie zu ihren Stühlen zurück.
    Nikolai glitt vom Tisch. »Tut mir leid, wenn ich den Verkehr aufgehalten habe«, sagte er und begann sein Instrument zu stimmen. »Sie wollten heute wahrscheinlich früher anfangen.«
    Elias zuckte die Schultern. »Ihre Aufregung ist verständlich nach dem, was Sie gestern Abend erlebt haben. Die legendäre Siebente Sinfonie zu hören, und sei es nur auf dem Klavier, ist ein großes Privileg.«
    »Ich hatte eigentlich gedacht, ich würde auch Sie auf der Feier treffen.«
    »Schostakowitsch und ich sind nicht sonderlich gut befreundet.« Elias zuckte erneut die Schultern, diesmalnachdrücklicher. »Eher entfernte Bekannte. Eigentlich kenne ich ihn kaum.«
    »Schade. Die Darbietung hätte Sie genauso begeistert wie alle anderen, zumal Sie das Werk vielleicht eines Tages dirigieren werden.«
    »Nicht solange Mrawinski lebt und atmet!« Elias lachte gezwungen. »Wir wissen doch alle, dass er Schostakowitschs Augapfel ist. Außerdem – glauben Sie wirklich, wir würden mit einem ersten Satz fertigwerden, der so gewaltig ist wie ein Marsch?« Er warf einen Blick auf seine fidelnde, blasende Truppe; mehr als zwanzig Stühle waren unbesetzt.
    »Ja, der erste Satz ist kolossal. Er klingt wie ein riesengroßes Tier, das aufwacht, sich reckt und streckt und zum Angriff bereit macht.«
    Elias blätterte in seiner Partitur. »Sind Ihnen irgendwelche Parallelen aufgefallen? Zu bestimmten Komponisten?«
    Nikolai lachte.
    »Ich frage nur«, sagte Elias schnell, »weil Schostakowitsch dafür bekannt ist, sich auf andere Werke zu beziehen.«
    »Und ich lache nur, weil er sich, bevor er zu spielen anfing, vorauseilend dafür entschuldigt hat.«
    »Wirklich? Was hat er gesagt?«
    »Er sagte –« Nikolai hielt inne. »›Bitte verzeiht mir, wenn es euch an Ravels Bolero erinnert.‹«
    »Und? Hat es Sie daran erinnert?«
    »Wissen Sie was?« Nikolai klemmte sich die Geige unters Kinn und fing an, sie zu stimmen. »Das hat es. Nicht nur an Ravel, sondern auch an Richard Strauss.«
    »Die Schlachtszene aus dem Heldenleben! Ja, das dritte Thema erinnert stark daran. Und haben Sie nicht auch Anklänge an Sibelius’ Fünfte gehört? Überhaupt nicht offenkundig und meisterhaft gemacht – nur eine äußerst subtile Anspielung im Grunde!«
    Nikolai ließ die Geige sinken und sah ihn erstaunt an. »Ja, es gibt in der Tat Ähnlichkeiten mit Sibelius, im dritten Thema. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber woher wissen Sie das? Wann waren Sie –«
    Er wurde von einem lauten Rülpsen unterbrochen. Es kam von Alexander, dünner und käsiger denn je, die Oboe in den zittrigen Händen. »Wenn Sie fertig damit sind, über Leningrads bedeutendsten Bürger zu schwadronieren«, sagte er demonstrativ höflich, »würde ich gern mal mit unserem bedeutenden Dirigenten unter vier Augen sprechen.«
    Elias starrte Alexander an; er hatte eine gewaltige Fahne. »Sie sind betrunken. Halten Sie es allen Ernstes für akzeptabel, betrunken zur Probe zu erscheinen? Ich gehe davon aus, dass Sie trotzdem spielen können.« Er wandte sich ab, doch Alexander packte ihn an der Schulter.
    »Ich wollte Sie um ein paar freie Tage bitten. Meine Schwester hat sich mit Diphtherie angesteckt, bei uns

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