Dirigent
sind ein gemeiner Hund. Und ich werde nicht spielen.«
Aus der Gruppe der Streicher ertönte ein scharfes Geräusch,das Elias zusammenzucken ließ. Eine überdehnte Geigensaite war gerissen und bog sich in der kalten Luft wie eine Peitsche. Er musterte seine Musiker mit ihren tödlich bleichen Gesichtern und den hohlen, rot geränderten Augen. Der Anblick erfüllte ihn mit Grauen. Er trat auf Alexander zu.
»Sie werden spielen. Das ist Ihre Pflicht.«
»Sie können mich mal am Arsch lecken«, sagte Alexander. »Sie sind ein Diktator und ein Drecksack.«
Roter Nebel ließ alles vor Elias’ Augen verschwimmen. Er konnte nichts mehr sehen, weder den betrunkenen Oboisten noch die verblüfft dreinschauenden Musiker, weder die rissigen Wände noch die kaputten Fenster. Stattdessen hatte er eine entsetzliche Vision, die er nicht einzuordnen vermochte: von einer Marmorplatte, einem weißen Hals, geäderten Lidern über vorquellenden Augäpfeln.
»Karl?« Das war Nikolais Stimme aus dem Hintergrund. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Elias trat einen Schritt zurück, sein Blick wurde wieder klar. »Gehen Sie«, sagte er zu Alexander. »Verlassen Sie den Raum.«
»Zuerst befehlen Sie mir zu spielen, und jetzt wollen Sie, dass ich gehe?« Es klang, als traute Alexander seinen Ohren nicht.
»Sie sind ein Trunkenbold und ein Lügner. Wenn Sie mal einen Blick auf Ihre Oboe werfen, werden Sie sehen, dass Sie sie beschädigt haben, und Ihre Oboe ist der einzige Grund, warum ich Sie so lange geduldet habe. Wir sind ohne Sie besser dran. Scheren Sie sich zum Teufel.« In einem Winkel seines Kopfes hörte er ferne Hörner: das Vorspiel zu einem Marsch.
Nachdem Alexander aus der Tür gewankt war, empfand Elias eine so überwältigende Erleichterung, dass auch er auf dem Weg zum Pult wankte. Da erklang hinter ihm ein sehr tröstliches Geräusch. Petrow klatschte. Mit seinenschwachen Händen und schrundigen Handflächen ging das zwar nur leise. Aber Applaus war es dennoch, und er sprang rasch von Musiker zu Musiker über, bis jedes einzelne Mitglied des Orchesters Elias Beifall klatschte.
Der Dieb
Nikolai versteckte seine Brotration auf dem Heimweg unter seinem Mantel. Vor der Bäckerei war es zu einem Handgemenge gekommen: Ein Jugendlicher hatte eine Frau gegen die Wand gedrückt und ihr das Brot entrissen. Als Nikolai aus der Bäckerei kam, saß die Frau noch immer mit leeren Händen auf dem matschigen Bordstein. Niemand hatte ihr geholfen; die Leute in der Schlange hatten nichts gesagt, nichts getan, sondern nur zugeschaut, als ginge weder der Dieb noch sein Opfer sie das Geringste an. Die Tat, die Gleichgültigkeit – beides war nichts Ungewöhnliches. Alle hatten inzwischen begriffen, dass man für sich selber sorgen musste, um zu überleben. Doch auf seinem Weg die düstere Straße entlang war Nikolai traurig und voller Misstrauen.
Als er in den Belinski-Prospekt einbog, begann es zu regnen, ein niedriger, schräg fallender Regen, beinahe Schnee. Er schlug seinen Kragen hoch und senkte den Kopf. Binnen Minuten war sein Geigenkasten rutschig und nass; er versuchte, ihn auf die Schulter zu wuchten, fand aber nicht die Kraft dazu.
Bemüht, die von den Panzern hinterlassenen Schlaglöcher zu meiden, stapfte er weiter durch den Matsch. Nur undeutlich nahm er andere wahr, die sich neben ihm vorwärtskämpften, möglichst langsam, um Kraft zu sparen. Ganz Leningrad schien unter Ächzen zum Stillstand zu kommen, wie eine Uhr, die niemand mehr aufzog.
Mit wachsender Erschöpfung war er unsicher geworden, was er tun sollte. Für diejenigen, die gute Beziehungenhatten, eröffnete sich gelegentlich noch eine Chance, evakuiert zu werden. Über die feindlichen Linien geflogen zu werden oder den Ladogasee zu überqueren, um die letzte intakte Eisenbahnlinie zu erreichen, die Leningrad mit dem Rest des Landes verband – beides war gefährlich. Doch es waren die einzigen Möglichkeiten, dieser Hölle auf Erden zu entkommen. Als Nikolai jetzt durch den Schneeregen blinzelte, sah er die Zukunft so klar vor sich wie seit dem Beginn der Invasion nicht mehr. Die deutsche Armee hatte Leningrad im Würgegriff und war dabei, die Stadt zu erdrosseln.
Und so versuchte er sich einzureden, dass er Sonja, indem er sie weggeschickt hatte, womöglich das Leben gerettet hatte. Doch wie immer rief eine Stimme in seinem Kopf: Du hast einen Fehler gemacht! Egal, wie die Lage war oder sein wird, Sonja gehört an deine Seite.
Erst in der vergangenen Woche,
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