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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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als er – allein – zu den Schostakowitschs gegangen war, hatte er ihre Abwesenheit schmerzlicher empfunden denn je. Galina hatte ihm die Tür geöffnet. »Wo ist Sonja?« Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie hätten sie doch mitbringen müssen! Es sind viel zu viele Erwachsene auf dieser Party. Wir wollten, dass Sonja kommt.«
    Beim Klang ihres Namens war er erschrocken. »Sie ist für eine Weile weggefahren. Zu ihren Vettern und Cousinen.«
    »Vermissen Sie sie denn nicht?« Galina schüttelte den Kopf. »Ich schon. Ich bewundere Sonja, sie ist eine Künstlerin. Und Maxim ist richtig in sie verliebt. Wann kommt sie denn wieder?«
    »Wenn diese schrecklichen Bombenangriffe aufhören, denke ich.« Als er die Wohnung betrat, schossen ihm die Tränen in die Augen; zum Glück war der Raum nur von Kerzen erleuchtet.
    Galina war seit langem die erste Person gewesen, die Sonjas Namen aussprach. Selbst Tanja erwähnte sie nichtmehr – hatte sie alle Hoffnung auf ihre Rückkehr aufgegeben? Andere spielten nur versteckt auf ihre Abwesenheit an, indem sie Nikolai fragten, ob er »Neues« über die »Lage« wisse. In letzter Zeit sprach er manchmal laut mit seiner verstorbenen Frau, dem einzigen anderen Menschen, der Sonja so innig liebte wie er. »Sag mir, ob sie noch lebt, bitte gib mir irgendein Zeichen«, sagte er, im Bett liegend. »Ist sie irgendwo in Leningrad?« Das war seine größte Hoffnung und zugleich seine größte Angst: die Möglichkeit, dass Sonja in die Stadt, aber nicht zu ihm zurückgebracht worden war, dass sie auf irgendeine fürchterliche Art entstellt war und unerkannt in einem Kranken- oder Waisenhaus lag. Dabei hatte er weiß Gott nach ihr gesucht. War bei allen amtlichen Stellen gewesen, die ihm einfielen, medizinischen Ämtern ebenso wie Verwaltungsbehörden; hatte alle seine Beziehungen genutzt, um einen Hinweis zu finden. Auf seiner Suche hatte er verstümmelte Kinder gesehen, deren Anblick er nicht mehr vergessen konnte: von Granaten böse zugerichtete Körper, ohne Stimme, Augenlicht oder Verstand. Doch keins von den bandagierten Mädchen, die ihn auf den behelfsmäßigen Krankenstationen ausdruckslos angestarrt hatten, war seines gewesen.
    Mit völlig durchnässtem Mantel schleppte er sich weiter. Wenn er es bis nach Hause schaffte, ohne sich einzubilden, er sehe Sonja, dann wäre dies, trotz des Brotdiebs und des eisigen Regens, am Ende ein erträglicher Tag gewesen. Die jähen Erscheinungen waren es, die ihm den Rest gaben – wenn er meinte, an einer Straßenecke oder durch ein Fenster einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, das blitzschnell wieder verschwand. Die Hoffnung und die ebenso plötzliche Enttäuschung – er war jedes Mal am Boden zerstört, blind, unfähig weiterzugehen.
    Schon bald war der Schneeregen so dicht, dass er kaum mehr die eigenen Füße sah. Wenn er es nur bis nach Hause schaffte.
    Als er in die Tarassowa-Straße einbog – zumindest glaubte er, dass sie es war –, stieß er mit jemandem zusammen. »Entschuldigung«, sagte er und blickte auf.
    Es war eine Frau mit schmalem Gesicht und dunklen Augen unter einer Kapuze. Auch sie murmelte eine Entschuldigung und ging weiter. Nikolai stand einen Moment still, bevor er sich umdrehte. »Nina Bronnikowa – sind Sie es?« Doch seine Stimme war schwach, und schon war zwischen ihnen eine Wand aus Eiswasser; er sah nur noch eine gebeugte Gestalt in einem langen Mantel, die im Graupelschauer verschwand.
    Bei seinem Wohnhaus angekommen, war die letzte Anstrengung, das Erklimmen der Treppe, fast zu viel für ihn. Stufe um Stufe stieg er zum ersten Absatz hoch, dann, noch langsamer, zum zweiten. Endlich stand er vor seiner Wohnungstür und lehnte sich mit triefend nassem Kopf dagegen. Leise und fast in Zeitlupe schloss er auf. Neuerdings war ihm, als ob ihn das Gespenst, das über ihm schwebte, vielleicht in Ruhe lassen würde, wenn er alles so leise wie möglich machte. Nichts Gutes erwartet dich , flüsterte es mit nasskaltem Atem – und er glaubte ihm mit seinem ganzen zerstörten Herzen.
    Nachdem er sich die Schuhe ausgezogen hatte, bekam er fast keine Luft mehr und musste sich auf den Boden setzen. Erst als ihm einfiel, dass das Brot genauso nass sein würde wie seine Kleider, zwang er sich aufzustehen, den schweren Mantel auszuziehen und das kleine durchweichte Paket auf den Tisch zu legen.
    Wie ein Schlafwandler driftete er auf Sonjas Tür zu. Da es jetzt auch Tanjas Zimmer war, ging er, um ihre

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