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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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wieder da gewesen. Er konnte sich kaum noch erinnern, wo oder wie er begonnen hatte; die ganze Sinfonie lag im Trüben, war ein Durcheinander von Themen, Nebenthemen und wiederholten Nebenthemen. Wo waren die klaren Linien der ursprünglichen Idee?
    Er stand vom Schreibtisch auf, ging an der Wand auf und ab und sah sich dabei selbst im Spiegel. Rote Augen, stoppeliges Kinn – er sah so verwahrlost aus wie ein Trinker oder Penner. Er schaffte es nicht, sich noch einmal anzuschauen, was er geschrieben hatte; schon hatte ihn die Gewissheit der letzten Takte verlassen. Mit der Rückkehr zum ersten Thema zu enden – war das gut oder lediglich banal? Er fühlte sich ausgesetzt und allein.
    Er öffnete die Tür. »Nina?« Doch alles war still, sowohl in der Wohnung als auch draußen auf der Straße. Er spähte um die Verdunkelungsjalousie herum durch das Kreuz und Quer der Klebestreifen, doch niemand war zu sehen – nur die Dümmsten oder zum Äußersten Entschlossenen wagten sich bei der nächtlichen Ausgangssperre so spät noch hinaus. »Ich vermisse Stimmen«, flüsterte er. »Ich vermisse das normale Leben.«
    Er musste mit jemandem reden. Die Antiklimax war so vorhersehbar wie unvermeidlich – und dadurch nicht leichter zu verdauen. »Iwan Iwanowitsch. Wo zum Teufel bist du, wenn ich dich brauche?« Rastlos tigerte er durch den Raum, nahm einen Schluck kalten ungesüßten Tee, spuckte ihn in die Spüle. Er stapelte ein paar Gläser ineinander, stellte Teller weg, und bald erschien, wie er gehofft hatte, Nina im Türrahmen, das Haar zu einem langen Zopf zusammengebunden.
    »Entschuldige! Ich wollte dich nicht wecken!« Das war gelogen. Allein bei ihrem Anblick wurde ihm wohler.
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Im Gegenteil. Vor weniger als zehn Minuten bin ich mit dem dritten Satz fertig geworden! Er ist sogar ganz – na ja, sagen wir, er ist zufriedenstellend.«
    »Wie wunderbar! Das ist es wert, geweckt zu werden.« Obwohl sie noch halb zu schlafen schien, ging Nina zum Schrank und holte Gläser und eine Flasche Wodka heraus.
    »Drei geschafft, einer steht noch aus.« Doch als er sich an den Tisch setzte, übermannte ihn eine solche Erschöpfung, dass ihm schleierhaft war, wie er je wieder aufstehen sollte, um das Schwierigste in Angriff zu nehmen: ein sinfonisches Finale, das alles Vorangehende nicht nur zusammenfassen, sondern noch übertreffen würde.
    »Auf die Kriegssinfonie.« Nina hob ihr Glas.
    »Auf das Ende des Krieges«, sagte Schostakowitsch und schenkte sich nach.
    Später, als ihm vor Müdigkeit und Wodka schon ganz schwindelig war, nahm er sie mit ins Arbeitszimmer und zeigte ihr das auf dem Flügel ausgebreitete Notenpapier. Sie beugte sich vor, ließ den Blick darüber schweifen (hörte sie, was er gehört hatte?), und sofort lenkte ihr Anblick ihn ab – die Wölbung ihres Busens unter dem Nachthemd, die vor Kälte hart gewordenen Brustwarzen. Wie konnte er wochenlang mit ihr zusammenleben, ohne sie zu bemerken? Er hatte es wieder einmal geschafft: sie auf die Ehefrau und Mutter zu reduzieren, auf diejenige, die das Essen auf den Tisch brachte und die Konten führte, unliebsame Aufmerksamkeit von ihm fernhielt und gesellschaftliche Wogen glättete.
    »Du bist so schön heute Abend!«, murmelte er. »Und ich bin ein blinder Idiot.« Er löste ihr Haar aus dem Zopfband, sodass es glatt und schwarz über ihre Schultern fiel. »Warum liebst du mich noch?« Er führte sie zum Diwan und zog ihr das Nachthemd über den Kopf. Sie schwieg, drückte ihn aber so eng an sich, dass ihm war, als würdensie sich nie wieder trennen. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass ich so abwesend war.«
    Als er später am noch dunklen Morgen unter einer rauen grauen Decke aufwachte, war Nina längst fort – doch auch seine Niedergeschlagenheit war verschwunden, und er konnte tief und friedlich weiterschlafen.
    Nun saß er wieder an seinem Schreibtisch, Lust und Liebe der vergangenen Nacht waren fast vergessen, und sein Magen war so leer wie sein Kopf. Beim Mittagessen hatte Nina ihm vorgeschlagen, er solle sich ein, zwei Tage ausruhen, doch er hatte den Kopf geschüttelt. »Ich muss weitermachen.« Er hatte eine lauwarme Tasse Borschtsch ohne Fleisch, mit wenig Rote Bete und sehr viel Kohlwasser, von sich geschoben. »Wer weiß, was die nahe Zukunft bringt.«
    Den Großteil des Nachmittags hatte er in seinem Arbeitszimmer gesessen, aber keine einzige Note geschrieben. Zweimal binnen fünf

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