Dirigent
viel lauter. Er fühlte sich schwerelos, so als hätte er die Verbindung zur physischen Welt verloren. »Ich lege mich besser mal hin«, sagte er und schob das Cello sanft auf eine Seite des Bettes, bevor er sich daneben ausstreckte. Er konzentrierte sich darauf, tief ein- und auszuatmen. Als sein Herzschlag und seine Nerven sich beruhigt hatten, nahm er ein leises Rascheln wahr. Es kam von dem Cello.
Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah sich um. Im Zimmer war es schon dunkel. Er stand auf, zündete eine Kerze an und hielt das Cello schräg zum flackernden Licht. Als er durch die geschnitzten Löcher ins hölzerne Innere des Instruments spähte, konnte er mit Mühe lauter weiße Papierröllchen von der Größe einer Zigarette oder eines Kinderfingers ausmachen.
Er rannte in die Küche, holte eine zweite Kerze und ein Messer und ging wieder in Sonjas Zimmer. Mit zitternden Händen schaffte er es, eines der Röllchen aus dem Korpus herauszumanövrieren. Noch bevor er es entrollt hatte, sah er, dass es mit Sonjas sauberen Miniaturdruckbuchstaben bedeckt war.
Liebste Mama, heute war ein guter Tag und ein schlechter Tag. Papa und ich haben einen wütenden Soldaten gesehen, der das Bronzepferd geschlagen hat. Herr Schostakowitsch hat mich nach Hause begleitet. Er hat gesagt, du warst eine der besten Cellistinnen in Leningrad. Ichhabe ihm erzählt, dass ich dich erst kennengelernt habe, nachdem du gestorben bist.
Jetzt zitterten seine Hände so heftig, dass es fast unmöglich schien, die Rollen durch die engen geschwungenen Schlitze herauszuziehen. Die Sirenen kreischten, die Lautsprecher gellten. Panisches Türenschlagen und Fußgetrampel auf der Treppe erschütterten das ganze Haus. Er ignorierte das alles und machte weiter, bis neben ihm auf dem Bett ein kleiner Zettelhaufen entstanden war.
Mama, ich schreibe dir, weil ich nicht genau weiß, ob du mich noch hören kannst. Die Panzer auf der Straße sind so laut.
Heute habe ich Tonleitern gespielt, keine Stücke. Meine Finger sollen so stark werden wie deine. Papa hat gesagt, meine C-Dur-Tonleiter war sehr gut.
Wir hatten heute eine Fliegeralarmübung. Die Deutschen machen allen Angst.
Das leise Dröhnen der Bomber hatte eingesetzt, doch Nikolai las weiter. Seine Augen brannten, obwohl er einoder zweimal sogar lachen musste.
Ich muss heute nach Pskow fahren. Ich möchte das nicht, aber die Generäle zwingen mich dazu. Ich hoffe, meine Vettern und Cousinen haben inzwischen gelernt, nicht mit offenem Mund zu essen.
Jetzt klang es, als wären die Flugzeuge direkt über dem Haus, die ganze Welt bebte. Er stand auf, verzweifelt weiter lesend – und fand endlich, was er brauchte.
Glaubst du, dass Instrumente sich an Menschen erinnern? Ich schon. Manchmal, wenn ich das Cello in die Hand nehme, will es mir etwas von dir erzählen. Jetzt muss es sich auch an mich erinnern, denn ich gehe morgen weg. Aber ich werde Papa bitten, es mit seinem Leben zu beschützen. Außerdem komme ich sowieso bald nach Leningrad zurück. Viele Grüße, deine Sonja.
In diesem Moment ertönte ein scharfes, kreischendes Geräusch, gefolgt von donnerndem Getöse. Das ganze Gebäude schwankte. Bücher wurden aus den Regalen geschleudert, Bilder krachten zu Boden. Plötzlich war Nikolai von splitterndem Glas und berstendem Holz umgeben. Er zog den Kopf ein und fiel neben dem Bett auf die Knie, den Zettel fest in seiner Hand.
Befehle
Schostakowitsch saß da und starrte auf den Stapel Papier vor sich. In den vergangenen vier Tagen hatte er das Zimmer kaum verlassen, sondern sich fieberhaft zwischen Schreibtisch und Flügel hin und her bewegt. Seine Augen schmerzten, seine rechte Hand tat weh. Doch letzte Nacht, ungefähr um diese Zeit, hatte er das Adagio vollendet.
Das Hochgefühl war so kurzlebig wie authentisch gewesen. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, die Arme ausgestreckt und sich selbst beglückwünscht. Er hatte es geschafft – noch dazu in nur zwölf Tagen. Wie stolz seine Mutter sein würde! Sie würde frohlocken, in die Hände klatschen und sagen: »Dmitri, du bist ein lebendes Wunder!« Aber sie war ohnehin immer unverhältnismäßig stolz auf ihn; er brauchte sich nur die Zähne zu putzen, schon verkündete sie, er habe es besser gemacht als jeder andere Mann in ganz Russland.
Ein paar Minuten später hatte er gemerkt, wie kalt ihm war. Trotz der zwei Paar Socken spürte er seine Füße nicht mehr, und seine Fingerkuppen waren weiß. Fast augenblicklich war die alte Angst
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