Dirigent
Privatsphäre zu respektieren, nur noch selten hinein. Doch die Entbehrung war wie starkes beständiges Heimweh, wie die Sehnsucht nach einem Land, das zu seinem vergangenen Leben gehörte. Und heute war er schwach, nostalgische Gefühle durchfluteten, ja überschwemmten ihn. Er klopfte nur ganz leise an, bevor er die Tür aufdrückte.
Tanja stand direkt vor ihm. »Nikolai! Ich dachte nicht, dass du schon so früh nach Hause kommen würdest.« Schamröte schoss ihr den Hals hinauf ins Gesicht.
Sie hielt ein Cello in den Armen. Das Cello. Sonjas Cello.
»Was machst du da? Was machst du mit Sonjas Geburtstagsgeschenk?«
Tanja wich zurück, das Cello noch in der Hand. Sein hölzerner Korpus ragte in einem merkwürdigen Winkel vor. »Wir wissen doch beide, was los ist, Nikolai.« Ihre Stimme war so rau und trübe wie die Straßen Leningrads. »Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir verhungern.«
Er starrte sie von der Schwelle aus an. Sie stemmte die Füße fest gegen den fadenscheinigen Teppich, auf dem seine Tochter krabbeln gelernt hatte; ihre Finger krallten sich um das Cello.
»Wie kannst du es wagen.« Seine Stimme war flach und ausdruckslos. »Wie kannst du es wagen. Du wolltest Sonjas Cello stehlen und es gegen Essen eintauschen.«
»Nicht stehlen.« Tanja zuckte mit den Schultern. »Im Krankenhaus hat uns jemand Konserven angeboten. Konserven! «
Nikolai lachte ungläubig. »Du hältst ein Storioni aus dem achtzehnten Jahrhundert in den Händen, Tanja. Ist dir das bewusst? Wenn die Belagerung vorüber ist, wirst du einen schuldigen Magen haben, leere Hände und eine Nichte, die dir das niemals verzeiht.«
Tanja nahm ihren vernünftigsten Tonfall an. »Nikolai, du weißt, dass du hoffnungslos unpraktisch veranlagt bist. Wenn du weiter arbeiten willst, brauchst du mehr als eine Handvoll Brot, um über den Winter zu kommen. Bald wird der See zugefroren sein, dann bringt kein Schiff uns mehr Nachschub, und wir haben noch weniger zu essen als jetzt. Glaubst du wirklich, irgendwer will dann noch ein Cello haben? Der Arzt im Astoria nimmt dir dieses Cello nicht mehr ab, wenn die Rationen erst auf nichts reduziert sind und auf den Straßen Aufstände toben.«
»Es ist weder ein Cello noch dieses Cello.« Am liebsten hätte er sie geschlagen. »Es ist Sonjas Cello. Und du legst es sofort weg.«
Tanja schüttelte den Kopf und hob ihre Last etwas höher an, sodass die C-Saite sie an der Hüfte streifte und einen Ton von sich gab. »Wir müssen jetzt handeln«, sagte sie, als läse sie aus einem Propagandablatt vor. »Wir müssen uns einen Vorrat an Konserven anlegen. Der Arzt hat Rotkohldosen. Grünkohl. Bohnen!«
»Er kann sich seinen Kohl in den Arsch stecken und wieder ausscheißen, bevor er Sonjas Cello auch nur mit einem Finger berührt.«
»Es war zuerst das Cello meiner Schwester.« Tanjas Wangen flammten. »Und davor gehörte es unserem Vater. Du hast meine Schwester nicht so lange gekannt wie ich, und Sonja kannte sie fast gar nicht. Ich kannte sie am längsten, also sollte ich auch entscheiden dürfen, was hiermit passiert.« Sie schüttelte das Cello, als wäre es ein ungezogenes Kind.
Nikolai war noch nie so wütend gewesen. »Du bist abscheulich. Ich habe dir ein Zuhause gegeben, und so dankst du es mir? Du weißt, wie besonders dieses Cello ist, was es Sonja und mir bedeutet – und trotzdem bist du bereit, es einem Quacksalber zu überlassen, der auf den Schwarzmarkt schielt und es für wenig mehr als ein paar Dosen Bohnen weitergeben wird? Ich habe Sonja versprochen, dass ihr Cello noch hier ist, wenn sie zurückkommt. Also leg es hin und geh raus, bevor ich dich dazu zwinge.«
Tanja stieß ein seltsames lautes Lachen aus. »Nimm dein dummes Cello«, sagte sie und warf es aufs Bett, dass die Saiten schwirrten, »und verhungere von mir aus. Was deine Tochter betrifft, so wissen wir beide, dass sie nie mehr zurückkommt. Du lebst in einer Traumwelt. Sonja ist tot.«
Sie marschierte an ihm vorbei und durch das Wohnzimmerzur Tür hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen. Ihr Weinen hallte durchs Treppenhaus, gefolgt vom Krachen der schweren Haustür. Wie als Antwort darauf schrillte eine Alarmsirene los.
Am ganzen Leib zitternd, setzte Nikolai sich aufs Bett. »Sonja ist nicht tot«, flüsterte er. »Sie kommt zurück.« Vorn auf dem Cello war ein langer Kratzer, und er rieb vorsichtig mit dem Ärmel darüber.
Draußen heulten die Sirenen, doch das Blut, das in seinen Ohren pochte, war
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