Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
ob er sie streichelte. Da wurde es für einen Moment pechschwarz in Elias’ Kopf. Doch sobald Ninas Augen sich auf die Noten richteten und Nikolai seinen Platz eingenommen hatte, fand Elias wieder zu seinem schwebenden Zustand zurück.
    Nach einiger Zeit – ein paar Minuten oder einer Stunde, er vermochte es nicht zu sagen – waren die Musiker bereit. Die ersten Bläserakkorde fielen wie Schatten in den Raum, die singenden Geigenmelodien folgten mit fast unerträglicher Lieblichkeit. Der Probenraum dehnte sich aus, um die Musik fassen zu können, und dann erfüllte die Musik die ganze Stadt, auch die leeren Felder und einsamen Wälder jenseits. Sie regnete auf die russischen und deutschen Soldaten nieder, die in ihren Schützengräben kauerten, und nahm ihnen die Angst und den Zweck ihres Tuns – und damit würde doch sicher alles wieder gut, während vieles, was vorausgegangen war (der knochenharte Winter, die explodierenden Straßen, der nicht endende Hunger, das langsame Sterben), sich in der Musik auflöste. Elias fielen die Augen zu, und er erlaubte sicheine Pause. Er brauchte nicht in die Partitur zu schauen; er hatte sie so oft gelesen und abgeschrieben, dass er sie besser kannte als seinen eigenen Körper. Er verspürte nichts als ungeheure Dankbarkeit gegenüber Schostakowitsch, der sie alle gerettet hatte.
    Die Musik wurde jetzt dünner, wie das Eis am Rand eines Sees. So sollte es sein. Die Melodie wanderte mahlend abwärts, ins unruhige cis-Moll hinein. Dunkle Holzbläsertöne deuteten tiefe Gewässer an: Wie ein Anker zogen Kontrafagott und Bassklarinette am tiefsten Cis, ließen aber auch wieder los, stiegen auf, immer höher bis zu den Streichern. Eine Pizzicato-Brücke über das Wasser, ein Hinübergleiten in E-Dur, und von dort –
    Da fehlte doch etwas . Ruckartig kehrte Elias in die Gegenwart zurück. In seinem Mund war Blut, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte, in den Gesichtern seiner Holzbläser Panik. Der Schock war zu groß. Elias’ eisiger Kern brach, und er klopfte ans Pult.
    »Wo war das Flötensolo?« Von der Anstrengung des Sprechens fühlte sein Hals sich wund an. »Wo zum Teufel ist Wedernikow?«
    Die Streicher hörten nach und nach auf zu spielen, hielten die Bogen kreuz und quer. »Weiß irgendwer, wo unser erster Flötist ist?«, fragte Elias.
    Jemand wagte zu murmeln, Schostakowitschs überzogene Forderungen hätten ihn vielleicht das Leben gekostet, hier und da wurde betreten gelacht, doch die meisten scharrten nur mit den Füßen und sagten gar nichts.
    Der zweite Flötist hob zaghaft die Hand. »Vielleicht kann ich das Solo übernehmen, solange er nicht da ist?«
    Da erschien, wie aufs Stichwort, Wedernikow in der Tür. Seine Brust hob und senkte sich, das Haar hing ihm bis auf die Schultern. »Entschuldigen Sie die Verspätung.« Er stolperte zu seinem Platz, steckte auf dem Weg mit Gewalt seine Flöte zusammen. »Entschuldigen Sie vielmals.«
    Elias war überrascht, welch ungeheure Wut er empfand. Hätte er statt seines Taktstocks ein Gewehr in der Hand gehalten, er hätte diesem keuchenden Schuft, der seine Träumerei unterbrochen und die Erlösung vereitelt hatte, eine Kugel ins Herz geschossen. »Entschuldigen Sie sich nicht«, sagte er kalt. »Reue ist eine sinnlose Empfindung.«
    Wedernikow blickte auf, das Mundstück seiner Flöte an den Lippen. »Es war unvermeidlich.«
    »Wir mussten auf Ihr Solo verzichten, also werden Sie Ihrerseits auf etwas verzichten. Es war ja besprochen, dass jeder, der zu spät kommt, seine Brotration einbüßt.«
    »Bitte tun Sie das nicht. Es ist –« Wedernikow biss sich so heftig auf die Lippe, dass auf der rötlichblauen Haut weiße Abdrücke erschienen. »Ich war auf dem Friedhof. Ich musste darauf warten, meine Frau beerdigen zu können.«
    Nina Bronnikowa keuchte, Petrow erhob sich halb auf seinen wackligen Beinen. Die anderen Flötisten legten Wedernikow die Hand auf den Arm oder die Schulter, und selbst die Männer vom Militär husteten, um ihre Bewegung zu unterdrücken. Doch Elias blieb steinern; er fühlte weder seine Zehen in den Stiefeln noch den Boden unter seinen Füßen.
    »Die Regeln stehen fest«, sagte er, den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. »Wir können sie nicht für eine Person ändern. Der Tod ist allgegenwärtig! Wer weiß, wer von uns morgen noch am Leben sein wird? Die einzige Gewissheit ist die, dass wir in der ersten Augustwoche in der Lage sein müssen, die Siebente Sinfonie

Weitere Kostenlose Bücher