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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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aufzuführen. Wedernikow, Sie verlieren für heute Ihre Brotration. Von vorn bitte.«
    Er sah den Flötisten nicht noch einmal an, auch Nina und Nikolai nicht; er war nicht stark genug, sich ihrer Trauer oder ihrem Entsetzen zu stellen, nicht an diesem Tag. In seinem Kopf drehte sich alles, und in seinen Lungenwar ein neues, ungewohntes Brennen. Das Orchester schleppte sich durch das Adagio, das keine Schönheit mehr hatte, und ins Finale, dem alle Energie und Überzeugungskraft fehlte. Er dirigierte mechanisch und fürchtete, jeden Moment zusammenzubrechen.
    Nach einer Stunde sank er auf einen Stuhl und dirigierte im Sitzen weiter – er hätte nie gedacht, dass er das jemals tun würde, jedenfalls nicht bevor dieser Alptraum begann. Doch von dieser Warte aus konnte er Nina Bronnikowas Gesicht sehen. War da ein Vorwurf in ihrem leicht gebeugten Nacken, dem gesenkten Blick? Die bloße Vorstellung war ihm unerträglich, und er stand wieder auf, stützte sich schwer auf den Stuhl und dirigierte nur mit der rechten Hand weiter.
    Nachdem die Musiker gegangen waren, um irgendwo Nachtwache zu halten oder für Brot anzustehen, setzte er sich erneut hin. Den Kopf zwischen den Knien, hustend und keuchend, begann er Sequenzen der Sinfonie aufzusagen: »Variation vier, Phrase fünfundzwanzig, Oboe und Fagott. Dynamisches piano . H gegen B; C-Dur zu cis-Moll. Crescendo bis zum fortissimo . Zurück zu C-Dur.«
    Doch die musikalischen Gleichungen stabilisierten ihn nicht, wie er gehofft hatte, sondern stürzten ihn in ein Meer aus entsetzlichen Bildern. Sein Vater, wie er mit dem Schusterhammer ein menschliches Gesicht zertrümmerte, Schostakowitsch, wie er Manuskriptseiten aus dem Fenster eines Flugzeugs warf. Brandbomben entlang einer Straße, lodernd wie Blumen. Und zurück zu C-Dur , wiederholte er verzweifelt, doch seine Gedanken wurden von den Schlägen des Hammers übertönt. Das menschliche Profil wurde zu einer Wolke weißer Haut, Schostakowitschs Gesicht ging in Flammen auf, die Motoren des Flugzeugs dröhnten. Er war in der Hölle.
    Durch das Chaos hindurch berührte ihn eine Hand an der Stirn, verankerte ihn. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte eine Stimme.
    Er öffnete die Augen und sah eine Welt, die – irgendwie – noch intakt war.
    »Können Sie mich hören?« Nikolais zerzaustes Haar und sein ungepflegter Bart trugen nicht dazu bei, seine Sorge zu verbergen.
    Ja, ich höre Sie sehr gut , antwortete er. Nur bin ich im Moment, aufgrund unvorhergesehener Krankheit, nicht zu sprechen imstande.
    Ninas Gesicht schwebte hinter Nikolais wie eine wunderschöne helle Wolke. »Ich glaube, er kann uns hören, aber nicht sprechen.«
    Noch während seine Lungen rasselnd um Luft rangen, empfand Elias große Dankbarkeit. Sie verstand ihn. Sie wusste, was er dachte.
    »Versuchen Sie zu trinken«, sagte Nikolai und hielt ihm den Rand eines Glases an die Lippen.
    Von dem lauwarmen Wasser musste er würgen, doch es war mit einer Prise Zucker versetzt, der seinen Gliedern eine körnige Kraft einflößte. Er lag dort, wo er hingefallen war, lauschte den Stimmen, ergab sich dem Verlust seiner Autorität. Es war, als wäre er wieder ein Kind – obwohl seine Eltern sich nie so liebevoll um ihn gekümmert hatten.
    »Er ist furchtbar dünn.« Nina schien vergessen zu haben, dass Elias sie hören konnte. »Und diesen Husten hat er schon seit Wochen. Er hat mir erzählt, er hätte einmal Tuberkulose gehabt. Glauben Sie –«
    »Nein, ich glaube nicht, dass es Tbc ist. Vielleicht eine kleine Lungenentzündung? Und ganz bestimmt nervliche Erschöpfung. In letzter Zeit arbeitet er sich kaputt.«
    »Armer Elias.« Nina klang beunruhigt.
    »Wenn wir es schaffen, ihn ins Astoria zu bringen«, sagte Nikolai, »wird Tanja schon ein Bett für ihn finden. Er muss sich ausruhen.«
    Elias machte die Augen auf und sprach mit bleierner Zunge. »Proben. Schostakowitsch –«
    »Nicht so wichtig wie Ihre Gesundheit. Und was nützt es Schostakowitsch, wenn Sie sich vor der Aufführung totgearbeitet haben?«
    Elias schloss die Augen wieder und hörte, wie Nikolai mit überraschender Entschiedenheit sein Geschick in die Hand nahm. Die Tür knallte, und nur noch Nina war bei ihm, das Glas Wasser in der Hand, und fühlte ihm ab und zu den Puls.
    Es schien unhöflich, schweigend dazuliegen. Er befeuchtete sich die Lippen und rekapitulierte im Geist ein paar Sequenzen – Zweiton-Motiv, sechsmal wiederholtes G –, bevor er etwas zu sagen

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