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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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haben viel gemeinsam. Ich sage nur ein Wort: Dickköpfigkeit.«
    »Apropos Schostakowitsch«, sagte Elias, »wissen Sie, wie es ihm geht?«
    »Er macht sich Sorgen. Über den Krieg, darüber, dass er Typhus bekommen könnte, darüber, wie lange Leningradden Belagerungszustand noch aushält. Im Wesentlichen ist er noch genau der Dmitri, wie wir ihn kennen und lieben.«
    »Aber hat er sich –« Elias machte sich an seinem Notenpult zu schaffen. »Hat er sich auch zur Sinfonie geäußert? Sie sagten doch, er befürchte, dass Toscanini sie in Amerika vermasseln könnte – aber was denkt er über diese, über unsere Aufführung?«
    »Noch hat er nichts dazu gesagt«, gab Nikolai zu. »Aber sein letzter Brief liegt auch schon einige Zeit zurück. Eine Menge Post kommt gar nicht durch.«
    »Natürlich.« Elias versuchte gelassen zu klingen. Es war unwahrscheinlich, dass Schostakowitsch große Gedanken an ein notdürftiges Orchester in Leningrad verschwenden würde, wo doch seine Sinfonie die Aufmerksamkeit berühmter Dirigenten und Kritiker in der ganzen Welt erregte. Und doch konnte er nicht umhin zu hoffen – aber worauf: ein Zeichen? Irgendetwas, woraus er schließen konnte, dass Schostakowitsch an ihr Vorhaben glaubte und dass es ihm etwas bedeutete. Einen Seufzer unterdrückend, schraubte Elias seinen Notenständer herunter. »Nicht sehr würdevoll, im Sitzen zu dirigieren, ich weiß, aber mitten in der Probe zusammenzubrechen wäre blamabler.«
    Wie sich zeigte, hatte seine niedrigere Position noch einen anderen Vorteil. Von der Warte eines Stuhls aus erschien das Orchester nicht so sehr als eine geballte Masse, sondern vielmehr als Ansammlung von Individuen. Er konnte an so manchem Hals die Adern hervortreten und in den Takten vor einem Solo ein nervöses Zucken sehen. Er selbst war weniger hör- und sichtbar als sonst, aber endlich auf dem richtigen Niveau.
    Nachdem die Probe zu Ende war, kamen mehrere Musiker zu ihm, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe, und ihm ihr Beileid zum Tod seiner Mutter auszusprechen.
    »Anscheinend können sie mich jetzt besser leiden«, sagte er etwas erstaunt zu Nina.
    »Natürlich. Sie sehen Sie jetzt als Menschen und nicht als Dirigenten.«
    »Weil meine Mutter gestorben ist?« Er war verwirrt. »Oder weil ich im Krankenhaus war?«
    »Weil Sie verwundbar sind.« Nina klappte den Klavierdeckel zu. Ihre Gabe, die Dinge auf den Punkt zu bringen, half ihm, zu erkennen, dass das Leben nicht so kompliziert sein musste, wie es ihm immer erschien.
    »Können wir gehen?« Nikolai stand an der Tür. Im Laufe des Winters hatte sich eine seltsame Stille um ihn gebildet – etwas Statisches, Abwartendes. Mit seinem langen Bart und den buschigen Brauen erinnerte er Elias an eine moosbedeckte Statue. Gefangen in der Zeit, wie sie alle, durch eine böse Wendung des Schicksals und die Belagerung. Wann würden sie daraus erlöst werden?
    Langsam gingen sie durch die zerstörte Stadt, Nikolai mit Elias’ kleiner Tasche und Elias mit der großen Partitur. Seine lederne Aktenmappe hatte er viele Monate zuvor eingekocht; dabei war ein eigenartig schmeckendes Stück Protein herausgekommen, das ein paar Wochen lang vorgehalten hatte. Seiner Mutter hatte er gesagt, es sei Schweinesülze.
    Die Straßen waren zwar nicht mehr matschig, aber die Armeelaster und Panzer hatten tiefe Furchen darin hinterlassen. Junge Leute bewegten sich genauso wie die Älteren: müde und steif. Nur die raschelnden grünen Bäume schienen lebendig zu sein. Der Sommer war wieder da, doch er hatte eine Stadt im Ausnahmezustand vorgefunden: zerschlagen, zertrümmert, vom Feind umstellt.
    Beim Gedanken an einen Stillstand, ein endlos andauerndes Gefangensein regte sich in Elias die vertraute Panik. Wie sollte er die ausgezehrten Leningrader und ihre Parteiführer beflügeln, wenn er selbst keinen Glauben an die Zukunft besaß? Seine Angst wuchs wie immer, wenner sich vorstellte, wie Schostakowitsch in Kuibyschew am Radio saß und ihn die Siebente Sinfonie dirigieren hörte. Doch was ihn an diesem Abend am meisten beängstigte, war die Aussicht, in seine leere Wohnung zurückzukehren.
    Je näher sie ihr kamen, desto nervöser wurde er. Nikolai versuchte nicht mehr, Konversation zu machen, sie bogen schweigend um die Ecke. Elias hielt den Kopf gesenkt und die Augen auf das zerbrochene Kopfsteinpflaster gerichtet.
    »Schauen Sie!« Nikolai stieß ihn an. »Sie haben ein Empfangskomitee.«
    Draußen auf der Treppe saß Waleri und

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