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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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versuchte. »Danke«, krächzte er.
    »Wofür?«
    »Fürs ... Klavierspielen.«
    »Aber ich spiele immer noch kläglich. Nicht annähernd so, wie Sie es gern hätten.«
    »Nicht ... kläglich.« Er drehte den Kopf zu ihr. »Noch nicht ... perfekt. Aber nicht ... kläglich.«
    Nina lachte. »Irgendjemand hat Sie mal als brutal bezeichnet. Aber ich glaube, ehrlich ist das bessere Wort.«
    »Das wird ... oft verwechselt.« Er nickte schwach. Er war zu müde, um weiterzureden, obwohl er ihr gern tausend Dinge gesagt hätte: Dinge, die er schon seit langem sagen wollte. Draußen auf der Straße rumpelten nach wie vor die Armeelaster vorbei, und wenn der Lärm mal einen Moment lang aussetzte, hörte er Vögel singen.
    Erneut knallte die Tür, Nikolai war wieder da. »Gute Neuigkeiten!«, sagte er. »Man wird Sie zum Krankenhaus fahren. Dort steht ein Bett für Sie bereit. Sie sind eine wichtigere Persönlichkeit, als Sie glauben!«
    »Nur eine Nacht«, sagte Elias matt. »Morgen müssen wir wieder proben.«
    Nikolai ging darüber hinweg. »Nun zu Ihrer Mutter. Kann sie ein paar Tage für sich selber sorgen, oder ist sie ganz ans Bett gefesselt?«
    »Sie ist ... Sie ist ganz –« Elias wandte den Kopf ab und murmelte das letzte Wort in Richtung Fußboden.
    » Was sagen Sie da?«, fragte Nikolai scharf.
    »Sie ist tot. Meine Mutter ist tot.«
    Nina ergriff seine Hand. »Wann? Wann ist es passiert?«
    »Vor zwei Tagen.« Er biss sich auf die Lippe, damit er nicht zu weinen anfing, und hörte wieder die Kufen von Waleris Schlitten über den getrockneten Schlamm schaben. Er sah Waleris kleine Hände neben seinen an dem Seil und den halb ängstlichen Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen, als sie das Friedhofstor erreicht hatten.
    »Mein Gott, das tut mir so leid.« Nikolai klang tief erschrocken. »Warum haben Sie denn nichts gesagt? Sie haben gestern und heute den ganzen Tag gearbeitet, ohne uns ein Wort zu sagen?«
    »Ich ... konnte es nicht. Ich weiß nicht, warum.« Das erklärte nichts, aber es war die Wahrheit. Er leckte sich ein wenig metallisches Blut von den Lippen: Es schmeckte nach Tod. Er hatte den Leichnam seiner Mutter in die alte Häkeldecke gewickelt und sie ein Stockwerk tiefer getragen. Sie war beinahe zu schwer für ihn gewesen, so wenig Kraft hatte er. Nur die Angst, dass Herr Schapran ihn mit seiner toten Mutter neben sich bewusstlos auf dem Treppenabsatz finden würde, hatte ihn angetrieben, Stufe um Stufe, mit brennenden Armen und unentwegt tränenden Augen.
    »Kein Wunder, dass Sie kurz davor sind, zusammenzubrechen«, sagte Nikolai. »Haben Sie ihr alle Ihre Rationen gegeben?«
    »Ich wollte verhindern, dass sie immer weniger wird.« Wie war ihm ihr Leben durch die Finger geglitten? Sie hatte noch gelebt, als er ins Badezimmer ging, um sich mit der stumpfen Klinge das Gesicht abzuschaben, doch als er dann hastig, mit wundem Kinn, wieder zu ihr kam, war sie tot. Er wusste es sofort. Der Raum hallte von ihrer Abwesenheit wider. Er hatte ihr die Augen geschlossen,ihr das Laken über das Gesicht gezogen, die Tür hinter sich geschlossen und war zur Probe gegangen. Den ganzen Tag über hatte er nichts gesagt, von nichts anderem gesprochen als von der Arbeit. Am Abend in die Wohnung zurückzukommen war das Schwerste und Einsamste gewesen, was er in seinem ganzen schweren, einsamen Leben je getan hatte.
    Nina hielt noch immer seine Hand. »Sie haben alles getan, was möglich war.« Das konnte sie gar nicht wissen, doch der so typische wahrhaftige Ton ihrer Stimme spendete ihm dennoch Trost.
    Nachdem er sich so lange allein durchgekämpft hatte, tat es sonderbar wohl, im Krankenhaus zu sein. Weiß gekleidetes Personal glitt geräuschlos vorbei, die Kranken und Verwundeten lagen still auf den behelfsmäßigen Stationen. Kristallleuchter hingen über ihnen, ausladend wie die Kronen von Eichenbäumen. Elias bekam zu essen und wurde manchmal gewaschen; man behandelte ihn mit nicht mehr und nicht weniger Respekt als alle anderen. Erst als er ein paar Tage später auf wackligen Beinen in die wirkliche Welt zurückkehrte und sich auf den Weg ins Rundfunkhaus begab, wurde ihm bewusst, was er durchgemacht hatte und was noch vor ihm lag.
    Nikolai sah ihn prüfend an. »Wollen Sie die Probenzeit nicht verkürzen? Wenigstens um ein paar Tage, bis Sie wieder etwas mehr bei Kräften sind?«
    Elias schüttelte den Kopf. »Wir brauchen jede Minute, die wir haben können.«
    »Sie sind ein sturer Hund. Sie und Schostakowitsch

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