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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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hier anzutreffen!« Keuchend blieb Nikolai vor ihnen stehen, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Elias besorgt.
    »Mehr als das!« Als Nikolai sich aufrichtete, leuchteten seine Augen und seine normalerweise so düstere Miene war wesentlich heller.
    Elias starrte ihn an. »Sie haben sich ja rasiert! Ich habe Sie noch nie ohne Bart gesehen.«
    »Ja, das habe ich heute Abend gemacht.« Nikolai strich sich mit der Hand über das Kinn, das von der ungewohnten Klinge noch wund war. »Die Luft auf meiner Haut fühlt sich fast wie ein Kuss an!« Er neigte sein Gesicht zum hellen Sommerabendhimmel und schloss verzückt die Augen.
    »Ist er betrunken?«, flüsterte Waleri.
    Elias schüttelte den Kopf und wartete. Wenigstens wusste er nun schon, dass es keine schlechten Neuigkeitenwaren. Einen Moment lang hatte er befürchtet, das Konzert –
    Doch Nikolai hatte die Augen inzwischen wieder geöffnet, und sie funkelten wie die Sonne. Er packte Elias an den Schultern. »Denken Sie nur, Sonja – Sonja lebt!«
    »Sie lebt ? Aber wie ... wo ...? Das ist ja großartig!«
    »Es ist so viel mehr als das.« Nikolai sank auf die Stufen, als wäre die Freude zu viel für ihn. »Es ist ein Wunder. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben.«
    »Wer ist Sonja?«, fragte Waleri.
    »Meine Tochter. Meine geliebte Tochter, meine Sonja! Ich habe einen Brief gefunden, der die letzten zehn Monate verschollen war.«
    Während das vertraute Heulen des Fliegeralarms einsetzte, sprudelte Nikolai die ganze Geschichte heraus: von dem verloren gegangenen ersten Brief, dem lange verschwundenen zweiten sowie dem knisternden Telefongespräch, das er an diesem Nachmittag vom Leningrader Hauptpostamt aus hatte führen können.
    »Ich habe ihre Stimme gehört!« Seine eigene Stimme war voller Staunen und Ungläubigkeit, als hätte er jemanden aus dem Jenseits sprechen hören.
    »Fahren Sie nach Swerdlowsk? Wie kommen Sie da hin?« Obwohl die Sirenen kreischten, mochte Elias nicht in den Keller gehen, fort vom Sonnenlicht. »Kann man einen Flug für Sie arrangieren?«
    »Deshalb bin ich geradewegs hergekommen.« Nikolai hielt kurz inne. »Es gibt ein Erste-Hilfe-Flugzeug, das morgen Abend nach Moskau fliegt, und Sagorski hat mir einen Platz darin gesichert. Von Moskau aus kann ich den Zug nach Kuibyschew nehmen, wo Schostakowitsch mich abholt, und er kümmert sich auch darum, wie ich nach Swerdlowsk komme.«
    »Moskau? Morgen Abend? Schostakowitsch?« Elias wusste, dass er wie ein Papagei klang, aber er konnte nicht anders. »Und was ist mit dem Konzert?«
    Nikolai biss sich auf die Lippe. »Es tut mir so leid. Ich muss sofort aufbrechen. Bitte glauben Sie mir, ich würde dieses Konzert sonst um nichts in der Welt versäumen, nur hierfür. Sie ist doch meine Tochter.«
    Elias sah die Falten auf Nikolais Stirn, die Kratzer auf seinen Händen, die losen Fäden an seinen Hosensäumen. Mit einem Blick nahm er Nikolais äußere Erscheinung in sich auf und versuchte dann mit all seiner Kraft, sich in ihn hineinzuversetzen – sich vorzustellen, wie es sein mochte, jemanden so sehr zu lieben, dass man alles für ihn zu opfern bereit war. »Ja«, sagte er. »Natürlich müssen Sie fahren. Das verstehe ich.« Es war beinahe wahr. Vielleicht wäre er ja eines Tages selbst einmal so weit? In diesem Moment, da er im niedrigen scharfen Sonnenlicht stand und die Sirenen um ihn herum schrillten, schien alles möglich.
    »Wirklich?« Nikolai stand auf und ergriff Elias’ Hände. »Um ehrlich zu sein, ich dachte, Sie würden sich ärgern. Ich weiß doch, wie viel dieses Konzert Ihnen bedeutet.«
    »Es ist nur ein Konzert«, sagte Elias. »Aber wenn Sie Schostakowitsch treffen, lassen Sie ihn doch wissen, dass wir seiner Sinfonie selbst mit einem unvollständigen Orchester gerecht zu werden versuchen.«
    »Natürlich.« Nikolai lächelte. »Aber jetzt sollten wir besser in den Luftschutzkeller gehen.«
    »Muss das sein?«, fragte Waleri.
    Elias zögerte. Seit April hatten sich die meisten Bombenangriffe in den Außenbezirken der Stadt ereignet, und in letzter Zeit hatte es manchen falschen Alarm gegeben, um die erschöpften Leningrader daran zu erinnern, dass die Gefahr noch nicht vorbei war, auch wenn sie nicht mehr befürchten mussten, zu erfrieren oder zu verhungern. »Ich glaube schon«, sagte er schließlich.
    »Ja, allerdings«, stimmte Nikolai ihm zu. »Ich habe jetzt etwas, wofür es sich unbedingt am Leben zu

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