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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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bleiben lohnt.«
    »Wie alt ist Sonja?«, fragte Waleri und hob seine Käferschachtel auf.
    »Neun. Nein, zehn. Sie hatte in der Zwischenzeit Geburtstag.« Der Ton des Bedauerns, der in Nikolais Stimme lag, grenzte an Bitterkeit. Er hatte Sonja wiedergefunden, aber es gab andere, kleinere Verluste, mit denen er leben musste.
    »Ist sie hübsch?«, fragte Waleri beiläufig.
    »Wunderhübsch! Aber Väter sind natürlich nicht objektiv.«
    »Meinen Sie, ein Zwölfjähriger ist zu alt für eine Zehnjährige? Wenn Ihre Sonja in einem Zug gesessen hat, der bombardiert wurde, und jetzt ganz allein tausend Meilen weit entfernt ist, muss sie ganz schön mutig sein.«
    »Bevor sie wegging, hat sie sich nicht besonders für Jungen interessiert. Ich glaube, sie mag Cellos lieber.«
    »Ach, ist sie auch Musikerin?« Waleri stapfte die Stufen zur Haustür hinauf, seine Enttäuschung war spürbar.
    Nikolai lachte. »Was hast du da in der Schachtel?«
    »General Shukow und General Mereschkow.« Waleris Miene hellte sich auf. »Sie ruhen sich ein bisschen aus, bevor sie wieder in die Schlacht ziehen.«
    Elias beobachtete Nikolai und Waleri, wie sie nebeneinander vor der Tür standen, eine große Gestalt mit zerknitterter Jacke und eine kleinere in einem roten, von Motten zerfressenen Pullover. Als er sie so die Köpfe zusammenstecken sah, versetzte es ihm den vertrauten Stich. Ich könnte hier auf der Straße bleiben, und niemand würde es merken. Eine Bombe könnte mir auf den Kopf fallen, und niemand würde –
    »Herr Elias!« Waleri drehte sich um. »Kommen Sie!«
    »Ich habe Waleri gerade erzählt, wie groß der Konzertsaal der Philharmonie ist«, sagte Nikolai. »Und dass Sie dort in zwei Tagen proben werden.«
    »Ohne Sie, Gott sei’s geklagt.« Doch Elias war von Erleichterung und Freude erfüllt, sie bezogen ihn mit ein!»Obwohl Sie jetzt«, fügte er hinzu, »da Sie Ihren Bart abrasiert haben, womöglich mittelmäßig geworden sind, wie Samson. Und das Rundfunkorchester hat schon zur Genüge mittelmäßige Geiger.«
    »Wissen Sie was, Elias?« Nikolai hielt ihm die Tür auf. »Ich glaube, Sie haben eben einen Witz gemacht.«
    »Ja, sagte Elias und trat in den kühlen dunklen Flur. »Ich glaube auch.«
Generalprobe
    Am Tag der Generalprobe türmten sich im Westen violette Wolken auf, dicht an dicht zusammengedrängt, als warteten sie auf den Befehl, aus dem Glied zu treten und sich über die Stadt zu verteilen. Leises Donnergrollen mischte sich mit der fernen Artillerie. Elias war mit Ohrenschmerzen aufgewacht, weshalb er sich trotz des schwülheißen Augusts eine Pelzmütze über den Kopf zog, bevor er die Wohnung verließ. Als er bei der Philharmonie ankam, fielen die ersten Tropfen.
    Er war früh dran, doch Petrow war sogar noch vor ihm eingetroffen und schon dabei, den Bühnenboden zu inspizieren. Er war so dünn geworden, dass er ohne weiteres zweimal in seine Hose gepasst hätte, die er sich mit einer Schnur um die Taille gezurrt hatte. »Regnet es schon?« Er wischte sich die leckende Nase. »Ist kein guter Tag für einen Durchlauf.«
    »Kein Tag ist gut für einen Durchlauf. Außerdem – je schlechter die Generalprobe, desto besser die Aufführung. Das sollten Sie doch wissen.«
    »Sie haben vollkommen recht, Herr Elias. Wie immer.«
    Besorgt sah sich Elias in dem riesigen Konzertsaal um. Das Einzige, worauf er sich bei Generalproben verlassen konnte, war, dass er ein Gutteil des nächsten Tages mit Durchfall auf der Toilette verbringen würde. Und diese Probe würde noch nervenaufreibender werden als gewöhnlich,weil es das erste Mal war, dass seine Musiker die Sinfonie vom Anfang bis zum Ende durchspielen würden, alle siebzig verfluchten Minuten. Wenn sie zusammenbrachen, ihre Instrumente fallen ließen, keine Luft mehr bekamen – nun, dann konnte er auch gleich zur Newa marschieren und den Kopf unter Wasser halten, bis es schwarz um ihm wurde.
    »Ja«, murmelte er. »Hoffen Sie auf eine schlechte Generalprobe, Petrow.«
    »Das werde ich tun.« Schwach, wie er war, machte Petrow doch einen äußerst entschlossenen Eindruck.
    »Aber nicht auf ein völliges Desaster!«, fügte Elias alarmiert hinzu.
    Während sich draußen ein Sturm zusammenbraute, wurde das Licht im Saal immer trüber. Die rissigen weißen Säulen ragten wie große Bäume in die Höhe. Zwei Soldaten stellten Stühle auf die Bühne. Das Geklapper und Gepolter war Elias vertraut und fremd zugleich – es schien ewig her zu sein, dass er es zuletzt

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