Dirigent
gehört hatte.
Er sah eine Minute lang zu und trat dann vor. »Ich möchte, dass Sie noch ein paar zusätzliche Stühle hinstellen.«
Der jüngere Soldat blickte auf. »Verzeihung? Aber man hat uns die genaue Anzahl genannt, die benötigt wird.«
»Ich hätte gern noch einen Extra-Stuhl hier.« Elias ging durch die Reihen. »Und da und da und dort.« Das wäre seine persönliche Ehrenbezeugung an diejenigen, die nicht mitspielen konnten – wie Alexander, der so lange sein Widersacher gewesen war, und Nikolai, seinen neuen Freund. »Die Stühle werden leer bleiben«, sagte er zu den Soldaten. »Im Gedenken an die Musiker, die wir an den Krieg verloren haben.«
Nach und nach trafen die Mitwirkenden ein, mit feuchten Haaren und bleichen Gesichtern. Sie behielten ihre Mäntel und fingerlosen Handschuhe an und packten schweigend die Instrumente aus. Die unförmige Kleidungkonnte nicht verbergen, wie ausgemergelt sie waren; der fast unerträgliche Winter schien ihnen noch in den Knochen zu stecken, ihre Bewegungen zu behindern und ihre Reflexe zu verlangsamen. Als sie ihre Plätze eingenommen hatten, sahen sie ihn halb entschlossen, halb ängstlich an: Eine Herkules-Aufgabe wartete auf sie, und sie wussten, dass sie denkbar schlecht dafür gerüstet waren.
Elias versuchte, ruhig zu klingen. »Heute ist ein wichtiger Tag für uns«, verkündete er über den Lärm des an die Fensterscheiben prasselnden Regens hinweg. »Zum ersten Mal werden wir die ganze Siebente Sinfonie spielen. Wenn Sie sich während eines Solos schwach fühlen, dürfen Sie sich erst ausruhen, sobald es vorbei ist. Bitte vergessen Sie nicht – ich bin auf Sie angewiesen. Leningrad ist auf Sie angewiesen.«
Donner grummelte über dem Gebäude, und die Musiker scharrten nervös mit den Füßen. Elias hörte hinter sich ein Geräusch: Ein paar uniformierte Funktionäre, mit Notizbüchern und Klemmbrettern bewaffnet, wurden in die erste Reihe geleitet. Er verbeugte sich vor jedem einzeln, erkannte unter ihnen aber nur den blassen Jascha Babuschkin und den kräftigeren Boris Sagorski.
Er drehte sich wieder zum Orchester um und gab der Oboe ein Zeichen. »Ein A, bitte.« Zum Glück klang seine Stimme einigermaßen fest.
Nachdem die Stimmgeräusche aufgebrandet und wieder verebbt waren, nahm er seine Mütze ab und legte sie neben sich auf den Boden. »Ich hatte erwogen, sie die ganze Probe über zu tragen, um keine Fehler zu hören. Aber mit einem toten Tier auf dem Kopf kann ich einfach nicht meine professionelle Bestleistung erbringen.«
Die Musiker lachten, eine kleine Welle, die in den dunklen Ecken des Saals ausrollte. Sie waren jetzt auf seiner Seite und bereit anzufangen.
Das Licht war so trübe geworden, dass er die Noten kaum erkannte. Hätte man ihnen denn für diesen Tag keinenGenerator zur Verfügung stellen können? Mussten die Dinge immer so schwierig sein, bis zuletzt? Er schraubte sein Notenpult eine Stufe höher und rieb den Taktstock mit dem Taschentuch ab: ein Hauch Kampfer stieg ihm in die Nase, und er vermisste plötzlich seine Mutter. Mit einem kleinen Seufzer hob er die Arme.
Er war sich der Männer hinter ihm äußerst bewusst, die jetzt aufmerkten, die Stifte gezückt, um jedes seiner Versäumnisse zu notieren. Noch deutlicher aber spürte er die Abwesenheit derer, die sein Tun so viel besser beurteilen konnten als diese schmallippigen politischen Funktionäre. Kein Schostakowitsch hörte ihnen zu, den Kopf schräg gelegt, während er mit einer unangezündeten Zigarette auf sein Knie klopfte. Kein Sollertinski fläzte sich in einen Sitz ganz außen am Gang, Nonchalance vorgebend und doch alles genau registrierend. Kein Mrawinski stand am Pult, souverän, hoch konzentriert, mit vornehmem Profil. Andererseits, wenn Mrawinski hier wäre –
Nur ich bin da! Leicht überrascht führte Elias den Taktstock nach unten, und die ersten Akkorde schallten voll und sicher durch den staubigen Saal. Dann brachen die Trompeten und Kesselpauken mit ihrem wiederholten drängenden Zweitonmotiv in die Streichersequenz ein. War es das stürmische Licht, das die Blechbläser mit den eingefallenen Wangen in mächtige Männer verwandelte, deren insistierende Töne das Orchester auf Linie brachten und ein unheilvolles Katz-und-Maus-Spiel in Gang setzten?
Instinktiv blickte er zur Gruppe der Streicher und suchte Nikolais angedeutetes konzentriertes Lächeln. Nichts als ein leerer Stuhl – Nikolai war schon in einem klapprigen Flugzeug ausgeflogen
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