Dirigent
es an Karls Mutter, Einwände zu erheben. Ihr Herz hing an dem Teeservice, dem einzigen Besitz, auf den sie stolz sein konnte, wenn sie Gäste hatten. Ein paar Minuten lang hörte Elias zu, wie seine Eltern Zünglein an der Waage spielten und seine Gesundheit gegen verschiedene Haushaltsgegenstände aufwogen. Seine Füße brannten vor Kälte, seine Wangen aber vor etwas anderem, einem Gefühl, das er nicht hätte benennen können. Als er sich wieder ins Bett schleppte, spürte er eine neue Kraft in seinen Gliedern und ballte unter der kühlen Bettdecke die Fäuste.
»Ich werde weiterleben!«, verkündete er, spuckte in die Schüssel, die neben seinem Bett stand, und betrachtete das blubbernde Gemisch aus Blut und Speichel. Dann schrieb er, an sein verklumptes Kissen gelehnt, eine Liste mit der Überschrift »Karl Eliasbergs Zehn Gebote«. Dazu gehörte:
Überleben, um sie alle Lügen zu strafen
Kein Schuhmacher werden und auch sonst kein Gewerbetreibender
Materielle Güter niemals höher bewerten als die Kunst des Lebens
In den folgenden Monaten wurde Elias gesund und erfüllte damit sein erstes Gebot. »Unerklärlich«, rief der Arztaus. »Ein Wunder.« Es klang fast verärgert: Wer schlechte Nachrichten vorhersagt und um deren Eintreten betrogen wird, kommt sich leicht ein wenig lächerlich vor.
Obgleich er nie besonders kräftig war, wuchs Elias stetig und kehrte sich ebenso stetig nach innen. Er weigerte sich rundheraus, das Handwerk des Schuhmachers zu erlernen (und erfüllte damit sein zweites Gebot). Im Staub des Lebens zu knien und sich Gegenständen zu widmen, die mit der gemeinen Erde in Berührung kamen – das war seine Sache nicht! Er erwog, Pilot zu werden – »Pilot?«, rief seine Mutter entsetzt – oder General, bis ihm klar wurde, dass er das organisierte Töten, egal aus welchen Motiven, missbilligte.
Und dann sprach ihn eines Sonntags, als er in einem Konzert des Jugendchors ein Solo gesungen hatte, ein vornehmer grauhaariger Mann an. Ob Karl Eliasberg auch ein Instrument spiele, wollte er wissen. Ja, antwortete er, eine Frau, die auf demselben Flur wohne wie sie, gebe ihm seit einigen Jahren Klavierunterricht.
»Würdest du mir etwas vorspielen?«, fragte der grauhaarige Mann mit genau der richtigen Mischung aus Autorität und Zurückhaltung.
Als er zum Klavier ging, hallten Elias’ unsichere Schritte in der baufälligen Kirche wider wie in einer Höhle. Er begann mit einem Präludium von Bach, dem einzigen Stück, das ihm unter Druck in den Sinn kommen wollte. Plump und zu laut fielen die Töne in den leeren Raum. Sie wirkten wie über den Rand einer Klippe geworfene Steine, manche in Bögen, andere präziser gezielt – aber während sie sich so aufhäuften, erlangten sie doch eine eigene Gültigkeit. Seine Lieblingssonate von Beethoven begann er bereits mit mehr Selbstvertrauen. Bam-bam-be-bam ! Die tiefen Bassnoten breiteten sich eindrucksvoll aus, während seine rechte Hand die Melodie höher und immer höher zur Kirchendecke steigen ließ.
Als die letzten wiederholten Akkorde verklungen waren,applaudierte der grauhaarige Mann. In einer Kirche wirkte das ein wenig fehl am Platz, ja, es war ganz und gar unüblich, doch Elias errötete vor Freude. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm zuletzt jemand so aufmerksam zugehört oder ihn gelobt hatte. Der Grauhaarige stellte ihm ein paar harmlose Fragen – wo er wohne, wie alt er sei, wie sein Vater finanziell dastehe –, bevor er zur entscheidenden Frage kam: Ob Karl wohl Interesse habe, sich um ein Stipendium am Konservatorium zu bewerben?
Elias war zunächst sprachlos, doch da sein Vater eine Lungenentzündung hatte und nicht arbeiten konnte und seine Mutter ihnen neuerdings Pfannkuchen auftischte, die hauptsächlich aus Kaffeesatz bestanden, sagte er: »Ja! Daran habe ich großes Interesse.« Zumindest hätte er mit einem Stipendium Anspruch auf zusätzliche Lebensmittelrationen. Bestenfalls würde es ihn befreien.
Ein fast unentrinnbares Vermächtnis
Während seiner ersten beiden Semester am Konservatorium sah Elias die Wangen seines Vaters immer mehr einfallen, hörte den Atem in seiner Lunge immer lauter rasseln. Anstelle von Mitleid empfand er Abscheu. Die Verachtung für seinen sterbenden Vater wuchs mit jeder neuen Technik, die er erlernte, und jedem Gespräch, das er mit seinen Kommilitonen führte.
Sein Vater hatte ihm nichts beigebracht, ihn auf nichts vorbereitet. Er hatte Elias weder gezeigt, wie man sich in der
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