Dirigent
– war das einzig Unantastbare und die einzige Möglichkeit, selbst unantastbar zu werden.
Als er übernächtigt aus seinem Zimmer trat, stand seine Mutter mit tränenüberströmtem Gesicht im Flur. Sein Vater war gestorben. Karl Elias war jetzt das Familienoberhaupt.
Teilnahmslos spürte er ihren bebenden Körper, als sie sich an ihn lehnte. Sollte er seinen eben gefassten Entschluss verkünden? Zeit und Ort schienen ungeeignet. Doch während er über den Kopf seiner Mutter hinweg schaute, sah er seine Zukunft klar und deutlich vor sich.
Der Weg zur Professionalität war steinig. Elias nahm immer am Unterricht teil, ohne Ausnahme, auch an Tagen, wenn die Luft im Konservatorium zu kalt zum Atmen schien oder Professor Steinberg eine Stunde zu spät kam und alle anderen Studenten bereits murrend ihrer Wege gegangen waren. Unbeirrt saß er da und spielte, um sich warm zu halten, mit seinen zwei Händen eine Bearbeitung für vier Hände. Manchmal gesellte sich Dmitri Schostakowitsch zu ihm und spielte wie selbstverständlich die Melodie, schnell, laut und mit viel Gefühl. Er schien nicht ins Notenblatt, sondern daran vorbeizuschauen, in einen tiefen Raum hinter den geschriebenen Noten, den Elias nur erahnen konnte.
»Ein Profi?«, wiederholte Schostakowitsch bei einer der seltenen Gelegenheiten, da sie ein paar Worte mehr wechselten als den üblichen knappen Gruß. »Natürlich! Ich war von Anfang an Profi – seit ich begonnen habe zu spielen. Da war ich neun.« Er knöpfte sich den dünnen Mantel überseinem dünnen Körper zu und marschierte in die Bibliothek. Elias sah ihm mit einem seltsamen Gefühl im Bauch nach: einem Neid, der so stark war, dass er an Wut grenzte.
Als Elias eines Tages vom Fahrrad stürzte und sich drei Wirbel brach, woraufhin die Nerven des Mittel- und Ringfingers seiner linken Hand geschädigt wurden, weinte seine Mutter tagelang. Seine brillante Karriere als Musiker war zu Ende! Er war erledigt, bevor er richtig begonnen hatte! Elias hatte keine Zeit zum Jammern; erst war er zu sehr damit beschäftigt, gesund zu werden, und dann damit, seine Karriere neu zu planen. Nachdem er dreieinhalb Wochen lang auf dem Rücken gelegen hatte, humpelte er in Professor Ferkelmans Büro und kam eine Stunde später mit einem neuen Hauptfach in der Tasche wieder heraus.
Manch einer mochte denken, er habe das Beste aus einer schlimmen Situation gemacht, doch Elias betrachtete es als einen Wendepunkt. Am Dirigentenpult zu stehen war, wie der Welt ganz allein zu begegnen, und daran war er schließlich gewöhnt. Jahre später, als er zu seiner ersten Probe vor das Leningrader Rundfunkorchester trat, wünschte er mit ebenso viel Hohn wie Bedauern, sein Vater könnte ihn sehen. Die Lehrjahre der Schinderei und äußersten Einsamkeit hatten sich ausgezahlt. Er war ein richtiger Dirigent mit eigenen Musikern. Das Orchester dehnte sich vor ihm aus, ein Meer aus unruhigen Bewegungen und verschwimmenden Geräuschen. Als er mit seinem brandneuen Taktstock an die Seite seines Notenständers klopfte, war ihm, als könnte dieses zarte Geräusch seinen Körper in Stücke sprengen.
Nachtwache
Von der Nachricht über die Evakuierung der Deutschen beunruhigt und erschöpft vom Unterrichten, konnte Schostakowitsch nicht schlafen. Er schraubte sich im Betthin und her, bis er in seine Decke eingewickelt war wie eine Mumie.
Der Verrat des Körpers! In solchen Nächten sehnte er sich nach Nina, wollte ihre langen Zehen zwischen seinen spüren, ihren kühlen, gerundeten Bauch an seinem Rücken. Er grollte ihr bitter – weil sie nicht da war und weil er sie brauchte.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zwei. Zweieinhalb Minuten später ertönte das blecherne Läuten der Kirche an der Kovenski Pereulok, noch eine Minute später das gebieterischere Scheppern der Kasaner Kathedrale. Er warf das Kissen, das er sich über den Kopf gedrückt hatte, auf den Boden. Warum in Gottes Namen war es den Russen nicht möglich, irgendetwas zu reparieren? Seit drei Jahren, seit der Nacht von Maxims Geburt, als es ihm zum ersten Mal aufgefallen war, hörte er diese Uhren zuverlässig nachgehen.
»Ich langweile mich.« Er sprach zu dem flüsternden Staub auf den Holzdielen, zu den quietschenden Federn des Hochzeitsbetts, das seine Mutter ihm geschenkt hatte (um ihm zu beweisen, dass es ihr nichts ausmachte, wenn ihr Sohn ein höchst unpassendes Mädchen heiratete). »All unser kleinliches, vorhersehbares Tun und Lassen – es langweilt mich zu
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