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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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gespielt, dass es Stunden dauerte, bis die Rillen in ihren Fingern verschwanden.
    »Mal sehen, ob sie einverstanden ist.« Sonja ging mit dem Cello in ihr Zimmer.
    Nikolai legte sich aufs Sofa und starrte auf den kaputten Vorsprung an der Stuckdecke. Er hörte Sonja murmeln wie an den meisten Abenden, wenn sie ihrer Mutter erzählte, was sie tagsüber erlebt hatte. Eine kleine Träne quoll aus seinem Augenwinkel und rann sacht über seine Wange auf das grüne Kissen.
Möbelpreise
    Eliasberg horchte regelmäßig an Türen. Er verstand sehr gut, warum der Staat so funktionierte; es war die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Allerdingsschätzte er die Intelligenz von Stalins Informationssammlern alles andere als hoch ein. Daran scheiterte das System.
    Bei anderen mitzuhören war ihm zur Gewohnheit geworden. Er konnte sich an keine Phase in seinem Leben erinnern, in der er nicht auf irgendeinem Flur gestanden und sich zu einer Holzvertäfelung hingeneigt hatte, als würde sie ihm gleich kleine Geständnisse ins Ohr singen. Dank des Horchens hinter Türen oder unter Fenstern (eine notwendige List, die ihm nie wie Lauschen vorgekommen war) hatte er schon viele nützliche Dinge erfahren. Dinge, die sich wie Kletten in seiner Haut eingenistet, ihn entzündet, zum Erfolg angetrieben und zu dem Profi gemacht hatten, der er heute war.
    »Warum muss Karl Elias immer auf Strümpfen herumschleichen?« Sein Vater sah den elfjährigen Sohn geräuschlos durch die Küchentür kommen und warf seinen Schraubenschlüssel hin. »Wenn ich zu irgendetwas nütze bin, dann doch wohl dazu, meine Familie mit Schuhen auszustatten!«
    »Schusters Kinder«, wagte Elias zu sagen, »gehen immer barfuß.« Das hatte er einmal einen Lehrer über den rothaarigen Boris sagen hören, Sohn des berühmten Botanikers Boris Berlowitsch, dessen scharfes Auge an Swetlana Stalins Geburtstag eine seltene Form von Bodenmoos entdeckt hatte (die seither ihren Namen trug). »Apropos Schusters Kinder!«, hatte der Lehrer ausgerufen, als Boris junior blind durchs Gebüsch stolperte und nach einem leuchtend weißen Ball suchte, der keine fünfzig Zentimeter von ihm entfernt lag, während der Rest der Klasse schweigend und ungeduldig zusah. Natürlich hatte Elias sich das gemerkt, denn von allen zwanzig verächtlichen Kindern war er das einzige, auf den das Sprichwort gepasst hätte, und er wunderte sich, warum der Lehrer es auf den kurzsichtigen Boris anwandte.
    Sein Vater sah daraufhin nur umso gekränkter aus. »Schuster? Warum benutzt Karl Elias so ein Wort in diesemHaus? Hat er das Schild draußen, an seinem eigenen Elternhaus, nicht gesehen? SCHUHMACHER –« Er hämmerte gegen die undichte Rohrleitung, um seine Worte zu unterstreichen. »Feinstes Handwerk!« Beim letzten Schlag flog das Rohr auseinander wie ein mit dem Spaten zerteilter Wurm. Doch selbst dieses Desaster warf Herrn Eliasberg nicht aus der Bahn. Wenn er einmal anfing, über seinen Beruf zu sprechen, war er nicht zu bremsen. »Falls Karl Elias das Familiengeschäft eines Tages übernehmen will, muss er lernen, dass zwischen einem Mann, der Schuhe flickt, und einem, der sie macht, ein himmelweiter Unterschied besteht. Schuster, so ein Scheiß. Ich bin Kunsthandwerker!«
    »Bitte! Pass auf, wie du redest!« Elias’ Mutter kam herein und schaltete sich in die Debatte ein. Sie kritisierte ihren Mann nur selten, doch bei ordinärer Sprache kannte sie kein Pardon.
    Elias scharrte mit den bestrumpften Füßen. Irgendwo draußen war Sonne zu finden und die Ruhe eines Samstagnachmittags und eine Gasse, über die er eine leere Dose kicken konnte. Doch seine Mutter hatte jetzt die kaputte Leitung entdeckt. »Um Himmels willen!«, rief sie und sah Elias an. »Lauf nach oben und hol den Tischler Wladimir. Der kennt sich mit Rohren aus.«
    »Wir brauchen kein Wladimir nicht«, protestierte sein Vater.
    » Keinen Wladimir«, korrigierte ihn seine Frau. »Los, Karl Elias!«
    »Tu, was deine Mutter sagt.« Sein Vater wirkte beleidigt und erleichtert zugleich. »Was weiß ich schon? Ich bin ja bloß ein Schuster.«
    Herrn Eliasbergs Selbstmitleid war in ihr tägliches Leben eingesickert wie starker, bitterer Tee, und an den Tagen, wenn Briefe von Onkel Georgi kamen, schien es umso stärker. George war der Glückspilz, der Mutige, der rechtzeitig über den Atlantik in die Vereinigten Staaten ausgewandertwar, um Gewalt, Aufruhr und Armut, getarnt als Chance für alle, zu entrinnen. Gelegentlich holte

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