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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Tode.«
    Irgendwo im Haus knallte eine Tür. Er erstarrte und sah die Zweige ans Fenster klopfen. Wer außer Komponisten und Trinkern war um diese Uhrzeit wach? Er wusste, dass er unter Beobachtung stand – höchstwahrscheinlich hockten Stalins Leute auch in diesem Moment in einem der Gebäude auf der anderen Straßenseite und spähten ihn aus. Seit einigen Jahren hatte er in einem Schrank auf dem Flur eine fertig gepackte Tasche liegen: zwei saubere Unterhemden, Zahnbürste und Rasierer, Stifte und Notenpapier. »Die Genugtuung eines öffentlichen Abtransports werde ich ihnen nicht gönnen«, versprach er Nina. »Meine Kinder sollen sich nicht daran erinnern müssen, wie ihr Vater gewaltsam aus seinem eigenen Haus geholt wurde.«
    Wenn man als Volkseigentum galt, wanderte man auf einem schmalen Grat, und die Gefahr, jederzeit in Ungnade zu fallen, führte zu permanenten Ängsten. Dazu kamen die erdrückenden Ärgernisse des täglichen Daseins.
    »Es gibt nichts Neues mehr unter der Sonne«, hatte er sich kürzlich bei Nina beklagt.
    »Du sagst doch immer, du brauchst ein monotones Leben, um richtig arbeiten zu können.« Irritierenderweise verfügte Nina über die Fähigkeiten eines Advokaten und führte gern seine eigenen radikalsten Aussagen als Argumente gegen ihn ins Feld.
    Er tat sie mit einem Achselzucken ab. »Es ist nicht gesund, wenn man vorhersagen kann, was passiert.«
    »Was wird denn passieren?«, fragte sie leicht ironisch.
    »Ich werde den nächsten Satz eines Klavierquartetts fabrizieren, meine Studenten werden mich mit ihrer Dummheit verblüffen. Maxim wird ein paar mehr Wörter lernen, Galina noch eine Methode finden, ihre Großmutter beim Kartenspielen auszutricksen. Hitler wird seinen Vormarsch fortsetzen, Churchill sich weiterhin über Roosevelt aufregen. Und Stalin wird seinen Kopf noch tiefer in den Sand stecken.«
    Doch seit ein paar Tagen war seine Schwermut selbst für die Umstände unverhältnismäßig schlimm. An der Oberfläche ging das Leben in der Stadt im normalen Rhythmus weiter, doch darunter spürte Schostakowitsch eine ständige Bedrohung, wie eine geballte Faust, die sich jeden Moment jäh öffnen konnte.
    War das eine Ratte, die da an der Wand neben seinem Bett entlangkrabbelte? Er hatte das Gefühl, als laufe ihm etwas über das Gesicht – raue Krallen, ein schleppendes, ledriges Schlittern, fauler Atem, der sich mit seinem mischte –, und ihn schauderte. Seine Schlaflosigkeit war eine Qual; schon spürte er das Fieber in seinen Gelenken. Er tauchte einen Finger in das Glas Wasser neben seinemBett und strich die Feuchtigkeit über seine heißen Lider. »Schlaf jetzt«, sagte er, als spräche er mit Maxim.
    Doch sein Geist war angespannt wie ein straffes Seil. Aus dem Nichts kam Herr Lehmann, der deutsche Diplomat, der die Stadt verlassen hatte, mit seiner Familie eine breite Straße entlangmarschiert. Vollkommener Gleichschritt, Beine vor und zurück, begleitet von einem einzelnen Ton – war es ein wiederholtes C? –, der ihre Glieder bewegte wie ein Marionettenfaden. Die Füße zeigten exakt geradeaus, ohne je die tintenschwarzen Linien auf der Straße zu übertreten. (Fünf parallele Linien: Jetzt erkannte er darin ein Notensystem.) Zielstrebig schritten die Lehmanns voran, drehten nur manchmal den Kopf, wenn sie nach links oder rechts blickten, um nach ihrem Heimatland Ausschau zu halten.
    In seinem Kopf entstand eine Sequenz, steigend und fallend, mit regelmäßigen Spitzen. »C zu G«, murmelte er. »C zu G.« In einer endlosen Vorwärtsbewegung gefangen, konnte er weder aufwachen noch entkommen und war von großer Angst erfüllt. »Ruhig«, murmelte er. »Konzentriere dich auf das, was du kennst.« Doch die weiße Stuckdecke, die Kaminuhr, das Glas Wasser: Alles war verschwunden. Dröhnende Schritte ließen das Bett erzittern, und er sah die maschinengleiche Bewegung von hundert Körpern, blitzende Zähne, die Sonne, von der Krümmung eines Adlerschnabels reflektiert. Und mitten im Lärm Sollertinskis höhnische Stimme. »Verstehst du denn nicht? Die Deutschen verlassen die Stadt.«
    Hilflos sah Schostakowitsch zu, wie die Menschen in Reihen davonmarschierten. Eine der Frauen drehte sich um, und ihm schien, als kenne er sie. »Nina?« Doch sobald sie auf ihn zuging, verschwamm ihr Gesicht und vergröberte sich. »Du kennst mich«, zischte sie. »Man nennt mich Lady Macbeth von Mzensk.« Und sie stürzte sich auf ihn, legte ihm die Hände um den Hals, würgte ihn, bis

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