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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Elias einen von Onkel Georges Briefen wieder aus dem Abfalleimer heraus, wo sie unter Kartoffelschalen und Teeblättern begraben lagen. »Aufregende Experimente ... auf dem Feld der ...« Mühsam entzifferte er die verwischten, violett gefärbten Wörter. »Arbeite mit einem hervorragenden Wissenschaftler ... namens –« Doch das hauchdünne Papier zerbröselte ihm in der Hand.
    An solchen schwarzen Tagen verschwand sein Vater, wie Mephisto, durch eine Falltür im Küchenboden in den Tiefen des Hauses, wo er an feinen Stiefeln für die schönsten Damen der Stadt arbeitete. Launisches Geklopfe erschütterte die Fundamente ihres täglichen Daseins, ließ Elias’ Schreibtisch zittern und seine sauberen Rechentürme schwanken. Die Zunge konzentriert zwischen den Zähnen, zuckte er zusammen, wenn sein Vater plötzlich nach ihm rief, und schmeckte sein eigenes Blut.
    »Warum kommt Karl Elias nicht, um seinem armen Vater zu helfen?« Die meisten Sätze von Herrn Eliasberg begannen mit »Warum« und drehten sich um seinen Sohn. Warum war Karl Elias so schweigsam? Warum verbrachte er so viel Zeit in der Bibliothek?
    Elias hatte selbst eine Frage, die er oft stellte, allerdings nur im Stillen, denn er wollte keine Tracht Prügel riskieren. »Warum«, rief er in seinem trotzigen Kopf, »sprichst du immer in der dritten Person mit mir?« Manchmal hallte seine Stimme so laut in ihm wider, dass seine Ohren nichts als den eigenen Protest hören konnten.
    Es war seltsam, aber wahr. Jedes Mal, wenn sein Vater seinen Namen auf diese unbedachte Weise aussprach, spaltete sich ein kleiner Teil von Elias ab. Als er elf wurde, fühlte er sich beinahe unsichtbar. Mit zwölf hatte er, mittels Horchen hinter seiner Zimmertür, erfahren, dass er eher früher als später wirklich nur noch ein Schemen sein würde; denn der Arzt teilte seiner weinenden Mutter mit,ihr Sohn könne kaum älter als vierzehn werden, Tuberkulose werde ihn dahinraffen.
    Nachdem der Arzt gegangen war, sank Frau Eliasberg vor seiner Tür zu Boden. Elias wusste das, weil er »Off-Geräusche«, wie sie in Theaterkreisen hießen, inzwischen gut zu deuten verstand. Raschelnde Röcke. Knarrende Dielenbretter auf dem Treppenabsatz. Und zuletzt ein Atemstoß aus verkrampften Lungenflügeln. Kaum einen halben Meter von seiner Mutter entfernt und nur durch eine holzgetäfelte Tür von ihrem Kummer getrennt, empfand er eine sonderbare Zuversicht – ja, er fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. War es möglich, dass sein Ableben im Herzen eines anderen eine Kerbe hinterlassen würde?
    Doch die wirklich nützliche Information, diejenige, die ihn am Leben erhielt, indem sie sein Blut trotzig zwischen Herz und Hirn hin- und herfließen und die Geschwulst an seinem Hals schrumpfen ließ, verschaffte er sich später am Abend hinter der Wohnzimmertür. Denn da überlegten seine Eltern, was sie verkaufen könnten, um ihn in ein Sanatorium zu schicken, wo sein Blut gereinigt und ihm das Leben gerettet werden könnte.
    »Es muss eine beträchtliche Summe sein«, sagte seine Mutter unter Tränen. Erneut raschelten ihre Röcke, dieses Mal allerdings deshalb, weil sie sich hin und her drehte, um den Wert der Möbel im Zimmer zu schätzen. »Wie wäre es mit dem Bücherregal?«
    »Das einzige Möbelstück, das meine Eltern mir hinterlassen haben?«, fragte Herr Eliasberg. »Das einzige gute Stück, das sie je besaßen?« In seiner Stimme lag die vertraute Geringschätzung. Den Lenden von Männern entsprungen, die allesamt im Gewerbe des Beschuhens tätig gewesen waren – zuerst von Pferden, dann von Menschen –, hatte er keinem von ihnen je vergeben. Großvater, Vater, Onkel, Vettern, allen warf er vor, ihn ein Handwerk gelehrt zu haben, das sie als ehrbar betrachteten, er hingegen als Stigma. »Nein«, sagte er. »Das Bücherregal bleibt.« Elias hörte, wieer sich besitzergreifend mit einem Ellbogen darauf stützte (Quietschen von Stoff auf polierter Eiche) und dann mit dem Fuß dagegentrat (Krachen von Leder auf Holz).
    »Und der Tisch? Mit allen vier Stühlen?« Schon schienen Frau Eliasberg die potenziellen Kosten für die Rettung ihres einzigen Sohnes zu überfordern.
    »Und wo sollen wir deiner Meinung nach essen? Im Rinnstein?«
    Eine Pause. Diesseits der Tür wischte Elias sich einen Schweißfilm von der Stirn und verlagerte das Gewicht von einem schwachen Bein auf das andere.
    »Aber vielleicht das gute Porzellan?« Sein Vater klang schon ein wenig heiterer.
    Nun war

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