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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Gesellschaft von Künstlern benahm, noch ihn in der Kunst der Konversation unterwiesen. Er hatte weder Kirchen- noch Zigeunerlieder mit ihm gesungen, weder Schlaflieder noch Opernarien. Ja, Elias war überhaupt noch nie in der Oper gewesen. Er besaß keinen anständigen Anzug, hatte sich nie lässig einen Schal um den Hals geworfen wie Professor Steinberg, nie ein teures Jackettso selbstverständlich getragen, dass es wie eine zweite Haut wirkte.
    Selbst Eliasbergs hoch entwickelte Beobachtungsgabe rettete ihn nicht. Als er zum Semesterabschlusskonzert im langen Pelzmantel erschien – wie es der berühmte Professor Glasunow angeblich getan hatte, als er vor Artur Schnabel und anderen angesehenen Gästen aus dem Westen spielte –, brandete in den hinteren Zuschauerreihen Gelächter auf, das sich erst legte, als er alle drei von ihm gewählten Études vorgetragen hatte, eine endlose Prozedur, bei der von Chopin nicht das Geringste übrigblieb.
    Er stolperte von der Bühne und sperrte sich in einem der Probenräume im ersten Stock ein. Als die Luft rein war, stahl er sich noch einmal in den leeren Saal, legte sich hinter dem nach Mottenkugeln riechenden Vorhang in die Kulissen und presste sein Gesicht auf den kalten Boden.
    Nach einer Weile hörte er Schritte auf der Bühne.
    »Erstaunliche Entscheidung, diesen Mantel zu tragen.« Es war Professor Steinberg. »Schultern, Arme, Rückgrat, alles eingeengt. Was hat ihn nur geritten?«
    »Anmaßung, denke ich.« Professor Ferkelman schob den Klavierhocker mit einem Quietschen unters Klavier. »Er ist dem Ganzen nicht gewachsen.«
    »Gesellschaftlich, meinen Sie?« Steinbergs Stimme entfernte sich. »Denn seine Arbeit entspricht ja durchaus den Anforderungen.«
    »Sein eigener schlimmster Feind.« Auch Ferkelmans Stimme wurde leiser. »Zu sehr bemüht, sich anzupassen ... steht abseits.«
    Als Elias schließlich nach Hause kam, fand er seinen Vater schlafend vor. Er stellte sich an sein Bett und blickte auf ihn hinab, diese hinfällige Gestalt, die früher einmal – sonderbare Erinnerung! – Autorität repräsentiert hatte. Deutlich zeichnete sich unter der fadenscheinigen Decke der Körper ab: Lenden wie ein kranker Fuchs, eine Kletterwandaus kantigen Rippen, ein schlaffer Arm quer über der rasselnden Brust.
    »Du hast mir nichts als Nachteile mitgegeben«, sagte er leise. »Ich habe von dir nur gelernt, was ich nicht sein möchte. Du hast mich mit allen Nachteilen einer engstirnigen und engherzigen Erziehung ausgestattet. Ein Leben endloser Tonleitern und Fingerübungen ohne höheres Ziel.«
    Er ging mit dem Gesicht ganz nah an das seines Vaters heran, betrachtete die hohlen Wangen und die Bartstoppeln, die sich durch die gelbe Haut schoben. Der Kampfergeruch und die stickige Dunkelheit machten auch ihm das Atmen schwer. »Du hast vorgegeben, kreativ zu sein, und warst doch bloß ein Handwerker«, sagte er und wich von dem Bett zurück. »Du wirst sterben, wie du geboren bist: als Schuhmacher.«
    In jener Nacht lag er lange wach. Er hörte die Kater in den Gassen schreien und die monotonen Straßenbahnen vorbeirattern. Wo war sein Platz? Nicht hier, in dieser Familie mit ihrer hauchdünnen Schicht Kultur, und auch nicht in den Fluren des Konservatoriums, zwischen all jenen, die über Mussorgski so selbstverständlich sprachen wie über die letzten Fußballergebnisse und irgendwie immer wussten, wann der richtige Zeitpunkt für das eine oder das andere gekommen war.
    Wohin gehöre ich? Er wälzte sich auf seiner Matratze hin und her. Weder gebildet noch ungebildet, lebte er in einem Niemandsland, wo Regeln ihm nicht weiterhalfen und seine Herkunft ihm keinen Halt gab. »Ich bin ein Außenseiter«, flüsterte er. »Ich stehe außen vor.«
    Die heftige Beschämung des Nachmittags, die Schuldgefühle, weil er Chopin nicht gerecht geworden war, die schmerzhaften Kommentare der Professoren: All dies sickerte aus ihm heraus wie schwarze Tinte und verschwand in der Dunkelheit. Nichts konnte ihn trösten außer der kalten, bitteren Erkenntnis, dass er anders war undfolglich nicht so leicht verdorben oder beeinflusst werden konnte.
    Schließlich, beim ersten Dämmerlicht, das sich in schmutzigen Streifen über dem Bahnhof zeigte, wusste er, was er zu tun hatte. »Die Dilettanten fürchten sich zurecht«, sagte er langsam. Was er zu erreichen beabsichtigte, konnte kein Reicher kaufen und kein Spießbürger in den Dreck ziehen; es war über Status und Spott gleichermaßen erhaben

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