Dirigent
er schrie – und erwachte.
Sein Körper war mit Schweiß bedeckt, das Laken klitschnass. Er zog sich Hose und Mantel an und schlurfte zum Klavier. Endlich war es still im Zimmer, und das seltsame Restlicht der Nachtsonne offenbarte nichts als leere Ecken. Er beugte sich über das Klavier, legte die Stirn auf das Holz, die Hände auf die Tasten.
Die Alptraumsequenz war noch da, in seinen Fingern. Während seine linke Hand sie nachspielte, griff er mit der rechten nach einem Stift. Er nahm ein neues Blatt Papier, leckte die Bleistiftspitze an und begann zu schreiben. Stockend, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit – es war, als folgte er einer versunkenen Straße, die jahrhundertelang mit Erde und Gras bedeckt gewesen war und nun langsam wieder zum Vorschein kam.
Gott, war er müde. Zur Hölle mit Sollertinski und seinen verstörenden Nachrichten. Zur Hölle mit Nina, die weder Göttin noch Hure noch Mutterersatz war, aber eine Mischung aus allen dreien, sodass er nicht anders konnte, als sie anzubeten, sie zu begehren und sie zu brauchen. Zur Hölle mit den tyrannischen, trauten, erdenden Banden der Familie. Und vor allem: Zur Hölle mit ihm selbst und all seinen neurotischen unausweichlichen Tics, die durchkämpft werden mussten, bevor er mit dem Komponieren beginnen konnte. Nur noch schlafen wollte er, doch die marschierenden Töne sammelten sich bereits in seinen Adern.
Erst als ein Hund bellte – dreimal, viermal, fünfmal –, blickte er auf. Das Licht drang hellgolden durch die Bäume. Sein Bett war ein wüstes Durcheinander von Laken, Decken und an die Wand gespülten Kissen. Es war Morgen. Er warf den Mantel ab, ließ sich schwer auf die Matratze fallen und schlief ein.
In Sollertinskis Büro
Später Nachmittag, und die Staubkörner wirbelten im Sonnenlicht. Sollertinskis Gespräch mit einer attraktiven Studentin näherte sich dem Ende; doch es war nicht so angenehm verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte.
»Ich fürchte wirklich«, sagte er zögernd, »dass ich an Ihrer Zensur nichts ändern kann.« Er sah, wie Lydias große Augen sich mit Tränen füllten. »Wenn ich eine solche Entscheidung im Alleingang treffen könnte, würde ich es liebend gern tun.« Das stimmte: Lydias Anwesenheit in seinem Unterricht war eine reine Freude. Sie saß in der ersten Reihe, sah ihn an, als fände sie seine Vorlesungen packend, und ihre Pullover waren so eng, dass er sich nur schwer vorstellen konnte, wie sie sich jeden Morgen hineinzwängte. »Liebend gern«, wiederholte er, bevor er seinen Blick von ihren Brüsten losriss, die sich in reizvoller Verzweiflung hoben und senkten.
»Dann muss ich mich also«, schluckte Lydia, »mit einer – mit einer –« Sie schien außerstande, die Zensur auszusprechen, die auf ihrer Arbeit stand, und neigte den Kopf, sodass Sollertinski ihren Nacken sah, der sich in den Tiefen ihres bemerkenswerten Pullovers verlor.
»Es gibt immer noch das nächste Semester, vergessen Sie das nicht! Wenn Sie den Sommer zum Lernen nutzen, kann sich alles noch entscheidend ändern.« Obwohl er ermutigend zu klingen versuchte, zweifelte er daran, ob sie noch einmal zum Konservatorium zugelassen würde. Für eine so hübsche Frau war sie erstaunlich untalentiert.
»Verzeihen Sie.« Sie hob das tränenüberströmte, rehäugige Gesicht. »Ich sollte vor einem Dozenten nicht weinen, schon gar nicht vor einem so bedeutenden wie Ihnen.«
»Aber ich bitte Sie«, sagte Sollertinski. »Ich habe schon viele Studenten weinen sehen. Tränen sind doch nichts Schlimmes.«
»Sie sind sehr freundlich.« Lydias Stimme zitterte undleuchtete wie der hinter ihr in der Luft tanzende Staub. »Ich sehe bestimmt furchtbar aus.«
»Überhaupt nicht. Viele Frauen sind am hübschesten, wenn sie gerade geweint haben. Ihre Gesichter sehen dann wie frisch gewaschen aus, so rein.«
Seit ungefähr zehn Minuten sehnte er sich nach dem Branntwein, den er hinter seinen ledergebundenen Bänden mit Beethovens Orchesterwerken versteckt hatte. Als Lydia ihm jetzt ein kleines, aber strahlendes Lächeln schenkte, war er sich nicht mehr sicher, ob er wollte, dass sie ging. In dem nun folgenden kurzen, erwartungsvollen Schweigen wurde er sich mit wachsendem Unbehagen des prüfenden Blicks bewusst, mit dem seine zweite Frau ihn von dem gerahmten Foto auf seinem Schreibtisch ansah.
Er räusperte sich verlegen. »Wäre das alles?« Er hörte sich an wie ein Lebensmittelhändler, der einer Lieblingskundin Frühkohl einpackte.
Weitere Kostenlose Bücher