Dirigent
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Nicht, dass er bisher schon etwas für sie getan hätte – oder dass ihr verweintes Gesicht und ihr herrlicher Körper seiner Konzentration an diesem schönen Montagnachmittag besonders förderlich gewesen wären. Er ging ans Fenster und drehte unauffällig das Foto seiner Frau herum, sodass ihr stählerner Blick sich auf das Lexikon der Musikwissenschaften richtete und nicht auf ihn.
»Nein, sonst nichts«, sagte Lydia, machte aber keine Anstalten, von ihrem Stuhl aufzustehen.
Sollertinski kehrte ihr den Rücken zu. Unter ihm strömten Studenten aus dem Konservatorium auf die Treppe. Mütter und Kinder gingen auf der Straße Hand in Hand; eine Straßenbahn ratterte, auf ihren Dominoschienen schwankend, vorbei. Das Licht war so hell, dass er, als er sich wieder zu Lydia umdrehte, zunächst nicht das Geringste sah.
»Sie sind gut mit Herrn Schostakowitsch befreundet, habe ich gehört.« Lydias Stimme sickerte durch die gleißende Helligkeit zu ihm durch. »Und in zwei Wochen findetdoch eine Aufführung seiner Sechsten Sinfonie statt.« Sie hielt inne und ließ ihre Hoffnung auf eine Eintrittskarte – und vielleicht noch mehr – wirken.
»Ich will sehen, was ich tun kann.« Aber er sagte es automatisch. Er hatte gerade bemerkt, dass ein wenig Rauch unter seiner Tür hindurchkroch, der sich an der holzgetäfelten Wand emporwand wie eine von der Flöte ihres Beschwörers angelockte Schlange. »Entschuldigen Sie«, korrigierte er sich. »Ich würde Ihnen zwar gern eine meiner Karten geben, aber das ziemt sich nicht in Anbetracht meiner Stellung an dieser Hochschule und Ihres –« Gerade noch rechtzeitig verkniff er es sich, »beträchtlichen Reizes« zu sagen.
Der starke Teergeruch war ihm vertraut. Widerstrebend streckte er Lydia die Hand hin. »Erlauben Sie mir, Sie hinauszubegleiten.«
Neben ihm hielt sie kurz inne und schob sich das glänzende Haar hinters Ohr; er roch den verführerischen Duft von Rosenwasser und Haut. Dennoch öffnete er die Tür, und Lydia trat auf den Flur hinaus, den Blick unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, sodass sie die Gestalt nicht sah, die auf dem Treppenabsatz hockte. »Oh!«, rief sie und drohte zu fallen.
»Vorsicht!« Der Mann packte mit einer Hand ihren wohlgeformten Knöchel, während Rauchwolken aus seiner locker gedrehten Zigarette quollen. Lydia hustete. »Entschuldigen Sie!«, sagte sie; es klang aufrichtig verstört. »Ich wusste nicht, dass Sie es sind. Ich meine, ich habe Sie nicht gesehen!« Hals über Kopf hastete sie davon, weniger femme fatale als verlegener Teenager.
Sollertinski blickte ihr nach, bis sie im runden Treppenhaus verschwunden war. »Dmitri Schostakowitsch«, sagte er dann und streckte beide Hände aus. »Du magst nicht so hübsch sein wie mein letzter Gast, aber du bist mir genauso willkommen.«
Schostakowitsch zog sich am Geländer hoch und hobseine Bücher auf. »Wurde auch Zeit, dass du dein tête-à-tête beendest. Wolltest du deinen alten Freund am Ketterauchen zugrunde gehen lassen?« In einem Kronkorken auf dem Boden häuften sich krümelige Kippen.
»Du riechst wie ein Lagerfeuer«, sagte Sollertinski. »Kommst du auf einen Schuss Beethoven rein?«
»Selbstredend!« Schostakowitsch folgte ihm in sein Büro. »Hast du das Mädchen durchfallen lassen?«
»Ich hatte keine andere Wahl. Zum Glück gleicht ihr Äußeres ihren erstaunlichen Mangel an Verstand wieder aus. Sobald sie diesen Unsinn mit der Musik bleiben lässt, wird sie einen Mann finden, der sie für den Rest ihres Lebens auf Rosen betten kann, der Glückspilz. Aber kommen wir zu wichtigeren Dingen.« Er zog die Branntweinflasche hinter Beethovens Zweiter Sinfonie hervor. »Auf wen stoßen wir an? Hübsche Mädchen mit großem – ähm – ich meine, hübsche Mädchen mit kleinem Verstand?«
Schostakowitsch schwenkte die braune Flüssigkeit in seinem Glas.
»Möchtest du lieber auf etwas Würdigeres trinken?«, fragte Sollertinski.
»Ja. Auf den Schlaf!« Schostakowitsch stürzte den Branntwein hinunter und hielt sein Glas gleich noch einmal hin.
Mit lässiger Eleganz schenkte Sollertinski ihm nach. »Was hast du bloß angestellt, mein Freund? Ich dachte, die Romanzen auf Verse seien unter Dach und Fach?«
»Nicht annähernd.« Schostakowitsch hatte rot geränderte Augen. »Mir fällt nichts mehr dazu ein. Ich arbeite jetzt an etwas völlig anderem.« Er lehnte sich zurück. »Einer Art Marsch, glaube ich.«
Sollertinski
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