Dirigent
welchen von mir haben, wenn Ihnen das hilft, ein wenig ... pünktlicher zu sein.«
Elias erstarrte. »Pünktlicher?« Er kannte die Witze, die auf seine Kosten gerissen wurden, wusste, dass die Mitarbeiter des Konservatoriums aus dem Fenster schauten und sagten, in Anbetracht der Unzuverlässigkeit der städtischen Uhrenwärter könnten sie sich glücklich schätzen, einen solchen Pünktlichkeitsfanatiker wie ihn in Leningrad zu haben. Und dass Iwan Sollertinski seine Vorlesungsskripte angeblich immer erst zusammensuchte, wenn Elias um die Ecke des Pressehauses bog, und exakt in dem Moment zu seinem Neun-Uhr-Seminar aufbrach, da Elias’ Rockschöße hinter dem Puschkin-Brunnen verschwanden.
Doch in Ninas braunen Augen blitzte kein Fünkchen Spott auf. Sie sah genauso gleichmütig aus wie damals, als Jelena Konstantinowskaja ihren Platz an Schostakowitschs Seite eingenommen hatte und Opernbesucher und Hausfrauen zu tuscheln begannen. »Ich hole beim Händler noch ein bisschen Papier für Sie«, bot sie ihm an.
»Danke! Aber nein, vielen Dank!« Freundlichkeit brachte Elias immer in Verlegenheit. »Meine Mutter rührt sowieso keinen Dorsch an, egal, wie hungrig sie ist. Alles Trockene richtet Verwüstungen in ihrem Mund an. Es bleibt ihr« – er steckte sich zur Veranschaulichung einen Finger in den Mund – »in den Tschahnlücken schtecken.«
»Verstehe. Aber wenn es bei uns mal wieder etwas Schöneres als Dorsch gibt, müssen Sie und Ihre Mutter zum Essen zu uns kommen. Ich bin sicher, mein Mann würde gern mehr darüber erfahren, wo Sie studiert haben.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Elias errötete. »Aber ich habe am hiesigen Konservatorium studiert. Zusammen mit Ihrem Mann.«
Ninas Augenbrauen schnellten hoch. »Wirklich? Er redet oft von seinen ehemaligen Kommilitonen, aber Sie hat er meines Wissens noch nie erwähnt. Sie haben doch nicht bei Maximilian Steinberg studiert, oder?«
»Rimski-Korsakows Schwiegersohn? Doch, genau bei dem. Ein bisschen konservativ in seinen Methoden, aber ein guter Lehrer.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, Sie bei dem Treffen von Maximilians ehemaligen Schülern gesehen zu haben. Waren Sie dabei, letztes Jahr in unserer Wohnung an der Bolschaja Puschkarskaja?«
»Äh, nein.« Er scharrte mit den Füßen und blickte, verzweifelt um Nonchalance bemüht, über die Köpfe der Leute hinweg. »Ich muss s-s-s- ... Ich muss zugeben , dass ich nicht das Vergnügen hatte.«
»Ich hoffe, Sie waren eingeladen. Ich dachte, Dmitri hätte Einladungen an alle seine früheren Kommilitonen verschickt. Falls Sie übergangen wurden, möchte ich Sie noch nachträglich aufrichtig um Entschuldigung bitten.«
»Übergangen?«, wiederholte Elias zerstreut. »Schon möglich. Vielleicht habe ich die Einladung aber auch bekommen und hatte damals nur zu viel zu tun. Ja, jetzt, wo Sie es sagen –« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn und hoffte, dass es überzeugend wirkte. »Mutter war krank. Genau. Sie hatte letzten Sommer eine leichte Lungenentzündung.«
»Die Party fand nicht im Sommer statt, sondern im Herbst.« Nina schien leicht verärgert, was gewiss nicht an Elias lag. »Also, Sie müssen bald mal zu uns zum Essen kommen. Ich werde Sie persönlich einladen. Aber jetzt muss ich nach Hause zu meinem Mann. Er liegt mit einem bösen Schnupfen im Bett.«
»Aber ich habe ihn gerade –« Elias fiel die Kinnlade herunter. Was ist, willst du Fliegen fangen? , hörte er seinenVater schimpfen. Er zuckte und wartete auf eine schallende Ohrfeige.
»Ja?«, fragte Nina nach.
»Sind Sie sicher, dass er einen Schnupfen hat?«
»Mit Dmitri zusammen in der Wohnung eingepfercht zu sein ist kein Tagtraum, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Nina säuerlich. »Er ist ein Alptraum, wenn er krank ist, und ein Alptraum, wenn er an etwas Neuem arbeitet, und im Augenblick müssen wir beides ertragen. Er schafft es einfach nicht, sich auszuruhen. Manchmal glaube ich, er wird sich noch zu Tode arbeiten.«
»Die Bürde der Genialität«, sagte Elias leise. »Die Welt wird nie begreifen, wie viel sie ihren Genies verdankt.«
»Sie glauben, Dmitri ist ein Genie?« Nina seufzte. »Die Zeit wird es zeigen. Im Privaten ist er nicht anders als andere Leute auch, höchstens etwas reizbarer und etwas weniger gesprächig –« Sie unterbrach sich und winkte über die Köpfe einiger um Spitze feilschender Frauen hinweg jemandem zu. »Nina Bronnikowa!«
Eine schlanke, dunkelhaarige Frau tauchte aus
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