Dirigent
sagte Elias achselzuckend. »Schmeckt sowieso alles nach Gummi, was es dieser Tage zu kaufengibt. Ihr Fischrogen wird auch nicht schlimmer sein als irgendwas anderes.«
Der Fischer schaufelte etwas von der zähen gelben Masse zusammen. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Seine Ledermütze saß so eng, dass sie ihm die Brauen dicht über die Augen drückte, und er lugte Elias durch ein Gewirr grauer Haare hindurch an.
»Worüber denn?« Elias machte sich über alles Sorgen: seine Karriere, seine Mutter, die Verachtung seiner Kollegen, die Wahrscheinlichkeit, dass er allein sterben würde – »Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Ich bin heute ein wenig zerstreut.«
Der Fischhändler drückte ihm ein feuchtes Paket in die Hand. »Dieses Mädchen. Das schwarzhaarige. Hat auf alle Männer die gleiche Wirkung. Hab ich schon öfter erlebt. Selbst die Besten verwandeln sich in stammelnde Idioten. Sie hatten keine Chance.«
»Danke«, sagte Elias ohne Groll.
»Nichts für ungut. Ist eben ein echter Blickfang, und Balletttänzerin noch dazu.«
»Ja, ich weiß. Daher auch die schönen Beine.« Er erschrak mit einem seltsam schlingernden Gefühl im Magen. Wie kam er dazu, mit einem Fischhändler über Frauenbeine zu reden?
»Komischer Zufall«, sagte der Fischhändler, »wenn man Pjotr Dementijews Spitznamen bedenkt.«
»Wer? Was für ein Spitzname?«
»Ihr Zenit-Spieler.« Der Fischhändler kippte den unverkauften Rogen in einen Sack. »Er ist so flink auf den Beinen, dass er ›die Ballerina‹ genannt wird. Erzählen Sie das dem Mädchen, wenn Sie ihr das nächste Mal begegnen. Vielleicht verschafft Ihnen das einen Vorsprung.«
Elias sah zu, wie der gelbe Rogenfluss in dem dunklen Schlund verschwand. »Ich werde ihr nicht wieder begegnen. Ich bewege mich nicht in diesen Kreisen.«
»Was machen Sie denn?« Der Mann schwang den Sack auf den Wagen hinter ihm.
»Ich dirigiere«, murmelte Elias.
»Was – den Straßenverkehr? Das muss anstrengend sein.«
»Anstrengend? Es raubt einem die letzten Kräfte«, sagte Elias; das kam aus tiefstem Herzen. »Obwohl die meisten Menschen glauben, man brauche dabei bloß mit den Armen zu fuchteln.« Er hielt das matschige Päckchen hoch. »Danke für das Abendessen.«
»Nett, dass Sie über meinen Stand gestolpert sind.« Der Mann lachte glucksend und gab Elias noch ein Päckchen. »Hier, bitte. Geht aufs Haus. Werde ich sowieso nicht mehr los.«
»Dorsch!«, sagte Elias matt. »Ich danke Ihnen.«
Und er war ihm wirklich dankbar. Irgendwie machte diese Geste andere Dinge wett: Alexander und den Streit, den Zusammenstoß mit Schostakowitsch und die Erkenntnis, dass er keinen Schimmer hatte, was nach seinem Tod über ihn geschrieben werden könnte.
»Meine Mutter wird sich sehr freuen«, sagte er.
Der Wendepunkt
Nikolai fühlte sich seit dem Aufwachen indisponiert. Sein Hals tat weh, seine Augen brannten. Eine halbleere Tasse Kaffee in der Hand und einen halbgeschriebenen Stapel Zeugnisse neben sich, saß er am offenen Fenster und hörte mit halbem Ohr, wie die Gessen-Kinder unten vor dem Haus einen streunenden Hund quälten. Ich bin immer noch bloß ein halber Mensch , dachte er. Nach so vielen Jahren lebe ich immer noch halbherzig. War das der Grund, warum sich ihm der Magen zusammenkrampfte? Oder lag es daran, dass er schlecht geschlafen hatte und Bilder vom Krieg in seine Träume gedrungen waren?
»Halt ihn fest!« Die Befehle drifteten von der Gasse zuihm herauf. »Binde ihm die Schnur an den Schwanz.« Nikolai seufzte, schob sich die Lesebrille in die Stirn und steckte sich eine Zigarette an. War das ein universeller menschlicher Trieb, dieses Schikanieren der Verletzlichen und Schwachen? In letzter Zeit hatte er versucht, seine exzessive Zeitungslektüre, sein besessenes Radiohören einzuschränken. Es war unmöglich, festzustellen, was genau in Europa geschah, doch im Prinzip glich ein Krieg dem anderen: enorme Belastungen für den Normalbürger, Brände und Plünderungen, Gräueltaten. Es wäre leichter gewesen, den Fakten nicht mehr nachzujagen, doch er konnte es nicht lassen. Der Welt den Rücken zu kehren, wie es lange seine Art gewesen war, hatte ihm nichts als Schmerz gebracht; jetzt war er süchtig nach Wissen. »Über das Schlimmste Bescheid zu wissen«, sagte er sich, »heißt auch, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein.« Und doch war er nicht sicher, ob er das wirklich glaubte.
Heute spürte er einen Schmerz hinter den Augen, der ihn in jene
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