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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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unwirklichen weißen Tage zurückversetzte, als im vorderen Zimmer der offene Sarg stand und in einem Hinterzimmer das Baby weinte und er selbst am liebsten in einer anonymen Stadt untergetaucht wäre und das Chaos seines Lebens hinter sich gelassen hätte. Und nun versank die ganze Welt im Chaos. Unten auf der Gasse hörte er den Hund panisch kläffen, und er wollte gerade den Gessens zurufen, sie sollten ihn in Ruhe lassen, als Tanja mit einem Brot unter dem Arm die Wohnung betrat.
    Nikolai erschrak. Er hatte aufräumen wollen, bevor sie kam, auch wenn er wusste, dass das lächerlich war, eine überflüssige Geste der Höflichkeit, wie sich den Bart zu stutzen, bevor man zum Friseur ging. »Frühstück?«, sagte er auf ihre Frage hin. »Danke, ich habe schon etwas gegessen.«
    »Hast du nicht.« Das schmutzige Geschirr von zwei Tagen stapelte sich auf der Anrichte, doch Tanja war geübtdarin, häusliche Unordnung zu deuten, und sah ganz genau, dass keiner der Teller an diesem Morgen benutzt worden war. »Du fängst doch nicht wieder mit diesem Unsinn an, oder?«
    »Kann sein, dass ich eine Erkältung bekomme«, hustete Nikolai. »Mein Hals tut ein bisschen weh.«
    »Du rauchst zu viel.« Tanja räumte den Aschenbecher von der Fensterbank und nahm ihm die Zigarette aus der Hand. »Kein Wunder, dass sich deine Stimme wie Kies unter Wagenrädern anhört.«
    Lautes Gejaule drang von der Straße zu ihnen herauf, und Sonja kam aus ihrem Zimmer gerannt. »Was machen die Gessens denn da?« Sie beugte sich so weit aus dem Fenster, dass Nikolai sie erschrocken am Kleid packte.
    »Hört auf damit!«, rief sie. »Lasst den Hund in Ruhe, oder ich binde euch Knallköpfen selber Blechdosen an den Arsch!«
    »Das reicht!« Tanja zog Sonja herein und schlug das Fenster zu. »Nicht nötig, dass die gesamte Nachbarschaft dich fluchen hört.«
    »Das ist mir egal.« Sonja verschränkte die Arme. »Gewalt gegen Minderjährige und Tiere dulde ich einfach nicht.«
    Beim Anblick ihrer Miene, deren Strenge so gar nicht zu den rosigen Wangen passen wollte, krampfte sich Nikolai erneut der Magen zusammen. Er hielt sich an der Tischkante fest und beobachtete seine schimpfende Schwägerin und seine kleine wütende Tochter. Was war denn heute nur mit ihm los?
    In dem anschließenden Schweigen hörte man Tanja umso lauter das harte Roggenbrot in Scheiben sägen. Sonjas Wangen waren gebläht; sie sah aus, als würde sie jeden Moment platzen. Nikolai trat mit gespielter Lässigkeit ans Klavier und schlug ein paar Töne an.
    Noch immer sagte keiner ein Wort. Vorsichtig spielte er ein Boccherini-Menuett. Jeder Ton, egal wie unvollkommen,traf wie eine kleine Axt auf die eisige Atmosphäre und hackte kleine Löcher hinein, bis der Druck sich lockerte. Als das Stück zu Ende war, wandte er sich Tanjas respekteinflößendem Rücken zu. »Ich habe mir überlegt, morgen vielleicht mit Sonja nach Dajmischtsche zu fahren. Die Hitze hier in der Stadt ist ja kaum auszuhalten.«
    »Dajmischtsche?« Sonja, die sich auf einen Stuhl gefläzt hatte, richtete sich kerzengerade auf. »O ja, lass uns zur Datscha fahren!«
    »Könntest Butter von dort mitbringen«, grummelte Tanja. »Ist hier in der Stadt für Geld und gute Worte nicht zu kriegen.«
    Doch Sonjas Gesicht verfinsterte sich schon wieder. »Ich kann nicht wegfahren. Ich muss die Nachbarschaft vor den Gessen-Kindern beschützen.«
    »Ich rede mit ihnen«, versprach Nikolai. »Keine Blechdosen und keine Katzenschwänze mehr, werde ich ihnen sagen. Kommst du dann mit aufs Land?«
    »Ja, klar!« Sonja hüpfte auf ihn zu. »Ich bin ein Dajmischtsche-Kaninchen!« Sie stieß gegen den Tisch, sodass Nikolais Zeugnisse herunterfielen. Sie und Nikolai bückten sich gleichzeitig, um sie aufzuheben, und knallten mit den Köpfen aneinander, dass es nur so krachte.
    »Scheiße!«, sagte Nikolai.
    »Papa!« Sonja wich zurück. »Mir sagst du immer, ich soll dieses Wort nicht benutzen.«
    »Sollst du auch nicht«, sagte Nikolai und untersuchte seine Brille. »Nur im äußersten Notfall, zum Beispiel wenn dir fast die Brille kaputtgegangen wäre und du noch fünfundfünfzig Zeugnisse schreiben musst. Oder –« Sein Blick fiel auf einen Notizzettel, der aus dem Papierstapel hervorschaute; er zog ihn heraus und stöhnte. »Oder wenn du einem notorisch jähzornigen Kollegen versprochen hast, ihm Fußballtickets auszuhändigen, und es völlig vergessen hast!« Er griff nach seiner Jacke, die Tickets steckten noch in der

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