Dirigent
auszugleichen. Er hörte noch das Geschepper der Pfannen, den ohrenbetäubenden Lärm, als Nina einen Kasten Besteck vor ihm ausschüttete. »Du willst was essen?« Sie knallte einen Stapel Teller auf den Tisch, sodass der unterste in lange weiße Scherben zerbrach. »Hier ist dein Abendessen, du armer kranker Mann.« Schon hatte er ein triefendes Paket auf dem Schoß. »Dorsch!«, sagte er hustend. »Vielen Dank.«
Endlich! Das Telefon klingelte. Nina stand mit stocksteifem Rücken vor dem Regal und gab vor, nach einem Lehrbuch zu suchen. »Ich geh ran«, sagte er und nahm den Hörer ab, während sie im Schlafzimmer verschwand und die Tür hinter sich zuknallte.
»Es tut mir leid.« Nikolai entschuldigte sich wortreich. »Wirklich. Mein Gedächtnis wird immer schlechter. Ich bin anscheinend im Begriff, senil zu werden.«
Er redete sich nie heraus, sondern bekannte sich einfach zu den Fehlern, die er gemacht hatte – ein Zug, den Schostakowitsch, ein Meister der Ausflüchte, bewunderte,ja, um den er ihn beneidete. Warum kann ich nicht mutiger und ehrlicher sein? , dachte er. Mehr wie andere Menschen? Er hatte seit ein paar Tagen nichts an seinem neuen Stück getan, und allmählich nahmen sein schlechtes Gewissen und sein Unbehagen ernste Formen an. »Sagen Sie mir, dass Sie die Tickets haben«, unterbrach er Nikolai, »und alles ist vergeben und vergessen. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht nur scharf darauf, Zenit in Aktion zu erleben, sondern auch« – er warf einen Blick zur Schlafzimmertür und senkte die Stimme – »dieses familiäre Tollhaus zu verlassen.«
»Sie auch?« Nikolai lachte. »Vielleicht ist es die Sonnenwende. Sie haben mein Mitgefühl und bald auch Ihre Tickets. Wo treffen wir uns?«
Sonja ließ sich immerhin so weit erweichen, dass sie die Tür einen Spaltbreit öffnete und ihm auf Wiedersehen sagte.
»Es tut mir ja leid, dass ich kein Ticket für dich habe«, sagte Nikolai; wie ihm jetzt klar wurde, hatte er einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, sich zu entschuldigen.
»Du hättest einen fluchenden Rabauken mitgenommen?« Mit ihrem herausfordernd gereckten Kinn sah sie nach wie vor ein bisschen gefährlich aus.
»Ich habe immer gern einen in Reserve«, versicherte er ihr. »Je mehr Rabauken, desto lustiger.«
»Ich hätte sowieso keine Zeit mitzukommen, selbst wenn es noch ein Ticket gäbe. Siehst du, was ich alles zu tun habe?« Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihm die schwankenden Bücherstapel überall auf dem Fußboden zu zeigen. »Wenn du wiederkommst, sind alle meine Bücher alphabetisch geordnet.«
Nikolai machte ein angemessen beeindrucktes Gesicht. »Und deine Spielsachen?«, fragte er mit einem Blick auf die Stofftier- und Porzellanhaufen.
»Die kommen in die Schubkästen, in denen ich früher meine Schuhe aufbewahrt habe. Ich schiebe sie unters Bett.«
»Du willst sie aus deinem Blickfeld verbannen?« Das beunruhigte ihn ein wenig. »Wirst du sie denn beim Einschlafen gar nicht vermissen?«
»Sie müssen selber schlafen. Diese weißen Nächte machen sie ganz fertig.« Sie gab ihm einen Kuss. »Sei vorsichtig bei dem Spiel. Bis nachher.«
Als er auf die Straße trat, schlug der Schmerz hinter seinen Augen erneut zu, wesentlich schlimmer diesmal. Die Sonne verwandelte die Fenster in gleißende Spiegel, und er legte die Hand über die Augen und taumelte. Hinter dem Kellerfenster lief ein Radio.
Aus Gewohnheit spitzte er die Ohren. In den vergangenen Tagen hatte er so manches aufgeschnappt, was sein Unbehagen noch steigerte. Aber jetzt musste er sich beeilen. Schostakowitsch wartete auf ihn. Er fuhr mit dem Finger unter seinem Kragen entlang, vergewisserte sich zum zehnten Mal, ob die Tickets auch wirklich in seiner Brusttasche waren, und zwang sich loszugehen.
Vom Ende der Donskaja-Straße aus sah er Schostakowitschs kleine, dunkle Gestalt schon auf seine charakteristische Art herumtigern, immer um seine Lieblingsbank herum.
»Es tut mir leid!«, rief er, sobald er in Hörweite war.
Doch Schostakowitsch sah kein bisschen verärgert aus, seine Augen leuchteten vielmehr vor freudiger Erwartung. »Ich fühle mich wie ein Schulschwänzer!« Eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, und sein Gesicht war rosig. »Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein.«
»Probleme zu Hause?«
Doch Schostakowitsch schien vergessen zu haben, was ihn am Telefon so eingeschüchtert hatte wirken lassen. »Nein«, sagte er und winkte ab, »nur dass ich einen ganzen Stapel
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