Dirigent
Kompositionslehreklausuren zensieren mussund Wenjamin Fleischmann versprochen habe, mir bis zur nächsten Woche seine Arbeitsskizzen anzuschauen.«
»Fleischmann? Ist das nicht dieser magere Blonde, in den alle Frauen am Konservatorium verliebt sind?«
Schostakowitsch nickte. »Der Arme merkt allerdings gar nicht, dass die Mädchen ihm zu Füßen liegen – naiv, wie er ist.« Einen Moment lang sah er fast draufgängerisch aus, und seine Augen funkelten; es war nicht schwer zu verstehen, warum viele der reichsten und schönsten Frauen Leningrads seinem Zauber verfallen waren. »Er ist enorm begabt, aber viel zu bescheiden, und es mangelt ihm erheblich an Selbstvertrauen. Also habe ich ihm aufgetragen, eine Oper zu schreiben nach einer Erzählung von Tschechow, die ich ihm gegeben habe.«
»Tschechow! Dann bringen Sie ihm hoffentlich auch gleich dessen Schlagfertigkeit gegenüber Kritikern bei.«
» Wenn man dir eine Tasse Kaffee serviert, rechne nicht damit, Bier darin zu finden! Ja, er wird eine dicke Haut brauchen, wenn die Leningrader Geier sich erst auf ihn stürzen. Trotzdem, ›Rothschilds Geige‹! Der perfekte Rahmen für eine Oper.« Schostakowitsch wirkte zerrissen, so als würde er am liebsten sofort nach Hause rennen, um den vielversprechenden Studenten über seinen Lieblingsschriftsteller zu belehren.
Nikolai blickte zur Sonne, die bereits hoch über ihnen stand. Er hielt Schostakowitsch die Tickets unter die Nase. »Es gibt Tage, an denen es dringend geboten ist, nicht zu arbeiten. Und heute ist so einer.«
»Sie haben recht. Wir dürfen uns nicht verspäten! Kommen Sie.« Schostakowitsch legte ein scharfes Tempo vor, als sie in die Mandelstam-Straße einbogen. »Der Höhepunkt der Fußballsaison erwartet uns!«
»Apropos Saison«, sagte Nikolai leicht außer Atem. »Ich bin mal gespannt, was Eliasberg dieses Jahr mit seinem Orchester anstellt. Ich habe gestern den Anfang der Probe mit angehört, und es war ein einziger Schlamassel.«
»Eliasberg?« Schostakowitsch Blick war auf das hohe grüne Dach des Stadions gerichtet. »Der Rundfunkdirigent? Ich kenne seine Arbeit nicht. Ich habe mit Mrawinski schon genug zu tun.« Er beschattete seine Augen und spähte zum Haupteingang, der jetzt vor ihnen lag. »Was ist denn da los? Sieht ja chaotisch aus.«
»Dmitri! Nikolai!«, rief jemand hinter ihnen. Es war Sollertinski. Er kam auf sie zugespurtet, und seine weite Jacke flatterte wie ein Umhang in der Luft.
»Was zum Teufel –?« Schostakowitsch staunte. »Haben Sie Sollertinski schon mal rennen sehen?«
Kies stob von Sollertinskis Schuhen auf. Sein lautes Keuchen war schon aus einiger Entfernung zu hören.
»Hast du es dir anders überlegt?«, rief Schostakowitsch. »Und endlich gemerkt, dass es sich lohnt, für Zenit einen Spurt einzulegen?«
Aber Nikolai packte ihn am Arm; sein Herz hämmerte, als wäre er derjenige, der rannte. »Ich fürchte – o Gott, ich fürchte das Schlimmste.«
Jetzt war Sollertinski bei ihnen, Schweiß strömte ihm über das Gesicht. Er beugte sich vor und rang nach Atem. »Ich – bin – euch – gefolgt«, brachte er hervor. »Wusste – dass – ihr –herkommen – würdet.«
Schostakowitsch erstarrte. »Was ist passiert?«
Sollertinskis Brust hob und senkte sich, als er sich aufrichtete und Habachtstellung annahm. »Es ist eben verkündet worden. Hitler hat angegriffen. Russland ist im Krieg mit Deutschland.«
TEIL II
Sommer 1941
Der Kosak und der tote Junge
Mit elf, im Jahr 1917, war Dmitri Schostakowitsch einmal Zeuge geworden, wie ein Junge getötet wurde, direkt vor seinen Augen. In der Stadt ging es damals drunter und drüber, es war ein finsterer, gefährlicher Ort, und seine Mutter hatte versucht, ihn nach Möglichkeit zu Hause zu behalten. Doch in jenem Jahr war ihm der Musikunterricht zur Gewohnheit geworden, und er mochte die Gewohnheit: Nur sie erlaubte es einem, Fortschritte zu machen. Den Direktor der Musikschule allerdings mochte er ganz und gar nicht.
»Er behandelt mich ohne den geringsten Respekt«, beklagte er sich bei Maria, die auf ihrer Matratze saß und sich das Haar kämmte.
»Du bist elf Jahre alt.« Maria, vierzehn, war sich ihres Altersvorsprungs unangenehm bewusst. »Herr Glasser ist ein erwachsener Mann und ein Experte. Du solltest auf ihn hören.«
»Kann sein, dass er erwachsen ist, aber ein Experte ist er nicht.« Dmitri schnappte Maria die Untertasse mit dem warmen Kerzenwachs weg, das sie sich ins Haar reiben wollte.
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