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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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(Das krause Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, war nur einer ihrer vielen jugendlichen Vorwürfe gegen Sofja Wassiljewna Schostakowitsch.)
    Dmitri steckte einen Finger nach dem anderen in das geschmolzene Wachs und hielt die weißen Kuppen hoch. »Glasser spielt Bach wie ein Idiot. Wie eine Maschine. Selbst an meinen schlechtesten Tagen spiele ich Bach besser als dieser alte Mann.«
    Maria nahm ihm die Untertasse wieder weg. »Er ist besser als mein Lehrer. Er hat einen sehr guten Ruf.«
    »Den hatte er mal«, widersprach Dmitri, »vor vierzig oder fünfzig Jahren. Er verlässt sich zu sehr auf die Vergangenheit. Fux hier, Bellermann da, Jaworski dort, so geht das die ganze Zeit. Er bezieht seine Musik aus dem Lehrbuch. Das ist eine Sackgasse.« Er marschierte zum Klavier, das in einer Ecke des Zimmers stand. »Neulich habe ich den Anfang meines Chopin-Prélude so gespielt –« Mit klebrigen Wachsfingern spielte er das B-Moll-Prélude an. »Und er hat gesagt, wenn ich so weitermache, bestehe ich die Prüfung nicht. Dann hat er mir erklärt, ich soll es so spielen!« Er richtete sich kerzengerade auf, schloss die Augen, um sich besser an Glassers andächtigen Gesichtsausdruck zu erinnern, und spürte, wie sein Körper sich in den seines Lehrers verwandelte. Seine Arme wurden steif, seine Finger zu Holz, seine Füße auf den Pedalen schrumpelten zu denen eines Siebzigjährigen. Und da dies eine besondere Begabung von ihm war, verwandelten sich auch die Tasten unter seinem Anschlag, als reagierten sie auf eine andere Person.
    »Du sollst dich nicht über ältere Menschen lustig machen.« Aber Maria lachte und klang gar nicht mehr so schrecklich erwachsen, sondern mehr wie sie selbst.
    Die Tür flog auf, und Dmitri drehte sich um, obwohl seine Hände weiter auf dem Prélude herumhackten.
    »Dmitri, was um Himmels willen tust du da?« Seine Mutter stand in der Tür, die Arme verschränkt, die Augenbrauen zusammengezogen. »So geht man doch nicht mit Chopin um.«
    »Ich bin Glasser, Mutter.«
    »Er ist dermaßen altklug«, sagte Maria, die wieder zur Verräterin mutierte, und stupste die verräterische Wachsuntertasse mit dem Fuß hinter einen Stuhl.
    »Du kannst von Glück sagen, dass du so einen Lehrer hast«, schalt Sofja Schostakowitsch über das mechanischeGehämmer ihres Sohnes hinweg. »Dein Vater und ich bringen all diese Opfer nicht, damit du deine Respektspersonen verspottest.«
    »Genau mein Reden.« Maria schlenderte zum Fenster, wo sie einen Blick auf Goga Rimski-Korsakow zu erhaschen hoffte, der sechzehn war und gut aussah.
    Dmitri hörte auf zu spielen und pulte sich das Wachs von den Fingerkuppen. »Glasser ist ein Dinosaurier. Er ist die Vergangenheit, und ich bin die Zukunft. Ich gebe ihm noch bis nächsten Juni Zeit, mir seinen Wert zu beweisen.« Als er aufblickte, sah er, dass seiner Mutter der Mund offen stand wie einem Frosch, der auf Fliegen wartet. »Was denn? Ich sage nur die Wahrheit.« Mit lautem Quietschen schob er den Hocker zurück. »Keine Sorge. Glasser hat einen absolut wunderbaren Bechstein, den gebe ich nicht so schnell auf.«
    Und so ging er den ganzen langen Winter hindurch, während die Straßen von Petrograd zusehends im Chaos versanken, weiter zum Klavierunterricht. Von Februar an lag sein Vater krank in dem kleinen Hinterzimmer der Wohnung.
    »Ihm tut nur der Hals ein bisschen weh«, erklärte seine Mutter Soja, die eins der Zigeunerlieder ihres Vaters hören wollte. »Aber zum Singen reicht seine Luft im Moment nicht.«
    Die Zustände in der Wohnung waren schlimm genug; doch draußen wurden die gefrorenen Straßen in Brand gesteckt und Schaufenster eingeschlagen, sodass das Pflaster vor Glas und Eis glitzerte.
    »Geh nicht zum Unterricht, Dmitri.« Sofja Schostakowitsch war dabei, Marias Strümpfe zu stopfen, die mehr aus Löchern als aus Wolle bestanden. »Bleib heute zu Hause.«
    Entschlossen knallte Dmitri seine Bücher auf den Tisch. Seine Mutter spielte sehr gut Klavier und war eine ausgezeichnete Lehrerin, aber sie war und blieb Amateurin. Und so viel war ihm schon klar – sie begriff nicht, was nötigwar, um an die Spitze zu kommen. Der einzige Weg, sich in dem, was man tat, immer weiter zu verbessern, bestand darin, es jeden einzelnen Tag zu tun. Und sosehr er den verstaubten alten Glasser auch verachtete – im Moment hatte er keine bessere Möglichkeit. »Kalt ist es heute!«, sagte er und bückte sich, um sich die Überschuhe anzuziehen. Das war mehr als

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