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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Gerede; es wollte seinen Fingern kaum gelingen, die Füße in das steife Gummi zu zwängen.
    »Hast du mich nicht gehört?« Ihre Stimme war jetzt entschiedener, schien nach seinen Knöcheln zu greifen, ihn zu behindern, bevor er an der Tür war. »Du bist zu jung, um das zu verstehen. Es sind Veränderungen im Gang. Die Stadt ist gefährlich geworden. Es ist nicht mehr sicher, durch die Straßen da draußen zu gehen.«
    »Ich gehe nicht, ich laufe.« Er wich ihrem Blick aus. »Ich laufe direkt zur Schule. Wie soll ich denn sonst der – Brötchenverdiener werden?« Fast hätte er »der beste Pianist in Petrograd« gesagt, aber ihm war klar, dass nackter Ehrgeiz nicht das geeignete Mittel war, seine Mutter zu überzeugen. Mit einem ernsthaft kranken Mann und drei hungrigen Kindern schien Sofja Schostakowitschs Sorge um ihre finanzielle Zukunft sein aussichtsreichster Verbündeter zu sein.
    Soja kam aus dem Hinterzimmer gelaufen, die sahneweißen Wangen gefleckt wie Marmor. »Papa will mir auch keine Geschichte erzählen! Keine Lieder, keine Geschichten. Was ist denn mit ihm los?« Sie warf sich auf den Boden und presste das Gesicht in die Rockfalten ihrer Mutter.
    Dmitri meinte zu ersticken. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als alldem den Rücken zu kehren, das eisige Treppenhaus hinunterzurennen und Luft zu atmen, die nicht von familiären Sorgen und Pflichten aufgeladen war. Er stand da und schabte mit dem Fuß am Schuhregal. »Papa wird bald wieder gesund«, sagte er. Das metallische Kratzen hatte fast die gleiche Tonlage wie die A-Saiteeines Cellos. Einen Moment lang fühlte er sich befreit, so als hätte sich ein schwerer Wintervorhang gehoben und einen Lufthauch hereingelassen. Kratz, kratz . Ja, eindeutig ein A. Wenn er mit dem Tempo experimentierte, wäre das vielleicht ein Anfang für –
    Aber Soja weinte jetzt, und seine Mutter ließ Marias Strümpfe fallen, ein Knäuel loser Fäden. »Es liegt doch bloß an dem kalten Winter«, tröstete sie Soja. »An der kalten Fabrik, in der Da gearbeitet hat. Sobald es Frühling wird, geht es ihm wieder besser.«
    Dmitri zwang sich, einen Schritt auf seine weinende Schwester und seine lügende Mutter zuzugehen; dann hielt er inne und wandte sich zögernd zum Hinterzimmer. Die Tür stand halb offen, und er spähte hinein. Eine braune Decke war vor das Fenster genagelt – der Versuch seiner Mutter, die dürftige Wärme vom Burshuika-Ofen drinnen und den zweiundzwanzig Grad kalten Atem der Welt draußen zu halten. Das Licht war trübe und dumpf. Und dort, wie auf dem Grund eines schmutzigen Teichs, lag sein Vater, die dünnen Schultern unter einer dünnen Decke eingezogen, der Kopf kaum sichtbar. Sein Atem klang wie eine Säge, die sich durch Holz arbeitete, sehr laut und wenig effektiv.
    »Vater?« Aber Dmitris Stimme ließ ihn fast ganz im Stich. Er versuchte es erneut. »Vater?«
    Sein Vater schien ihn nicht gehört zu haben. Dmitri wich ins Wohnzimmer zurück und nahm seine Bücher. »Bis heute Abend«, sagte er schnell und trat mit beschämender Erleichterung in den Hausflur.
    Immer eine Stufe überspringend, polterte er die Treppen hinunter. Es ist in Ordnung , beruhigte er sich. Wenn du professioneller Musiker werden willst, darfst du dich durch nichts davon abhalten lassen: weder durch Kleinmut noch durch Höflichkeit. Weder durch Krankheiten in der Familie noch durch Mitleid . Jenseits der Haustür bot sich ihm der vertraute trostlose Anblick. Verkohlte Metallträgerlagen wie Knochen in einem Beinhaus kreuz und quer übereinander. Ein Stück die Straße hinunter brannte ein Auto matt vor sich hin, leichter Schneefall dämpfte die Flammen. Aus der Richtung der Stadt kamen Rufe, Pfiffe und Gewehrschüsse. Auch nicht durch Plünderungen und Unruhen oder politische Proteste , dachte er und zog sich die Fellmütze über die Ohren. Du darfst dich von alledem nicht ablenken lassen.
    Seine Mutter hatte recht – er verstand wirklich nicht genau, was los war, wusste nur, dass die Menschen es leid waren, hungrig zu sein, stundenlang vor den Bäckereien Schlange zu stehen und vor der Tür des Schlachterladens zu kampieren, um Fleischabfälle zu ergattern, die für Hunde getaugt hätten. Die Petrograder waren am Ende ihres Geduldfadens angelangt, wie Maria sich ausdrückte – dazu verurteilt, schimmeliges Brot zu essen, wussten sie kaum noch, wie Butter oder Eier schmeckten! Sein Magen knurrte; er hatte bisher nichts als eine halbe Tasse wässrigen Haferschleim zu

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