Dirigent
sich genommen. Seine Mutter hatte zugesehen, wie er ihn in sich hineinlöffelte, während Maria die Stirn runzelte und Soja das Gesicht verzog. »Euer Vater wird bald wieder zur Arbeit gehen«, hatte sie gesagt. »Bald sind diese unruhigen Zeiten vorbei.«
»Bis dahin sind wir verhungert«, murmelte Maria, die von ihrem großherzigen Lehrer am Konservatorium manchmal Brot bekam, das sie mit nach Hause brachte und in fünf Teile brach.
Dmitri schlug den Kragen hoch, hängte sich den Lederriemen seiner Tasche über die Schulter und ging los. Er war sich nicht sicher, wie lange der Unterricht noch stattfinden würde – Undiszipliniertheit lag in der Luft, Nervosität, die sogar den geordneten Ablauf am Konservatorium erfasst hatte. Als er in den Newski-Prospekt einbog, stockte ihm der Atem: Eine Wand aus Rücken blockierte ihm den Weg, die Straße war von einem Ende bis zum anderen voll mit Menschen, die langsam vorrückten, ehereinem einzigen stampfenden Körper gleich als einer Vielzahl von Personen. Dmitri zögerte kurz und tauchte dann unter Ellbogen hindurch blitzschnell in das Gedränge ein. Zweimal sah er direkt neben sich einen Revolver in großen geröteten Händen.
Er richtete sich auf und atmete einen Schwall eisiger Luft ein. »Was ist hier los?«, fragte er die Frau neben sich. »Bitte, sagen Sie mir, was los ist.«
»Heute ist es so weit!« Sie sah ihn kaum an. »Heute zwingen wir sie in die Knie!«
Am Rand der wogenden Menge zersplitterte eine Fensterscheibe, und ein Glasregen ging nieder. Die Leute grölten.
Irgendwo ganz vorne krachten drei Schüsse. Die Frau packte Dmitri mit rauen Fingern am Hals. Speichel tropfte ihr von den Lippen; ihr Mund war eine dunkle Höhle voll abgebrochener schwarzer Zähne. »Geh nach Hause! Kinder haben hier nichts zu suchen.«
Von ihrer wilden Erregung verschreckt, zuckte er zurück. »Lassen Sie mich los!« Er entwand sich ihrem Griff und schlängelte sich durch die Reihen – allerdings nicht zurück, sondern immer weiter nach vorn.
Als er den Jungen fallen sah, war ihm, als falle er selber auch. Er war so nah dran! Nah genug, um die Bartstoppeln am Kinn des Jungen zu sehen, seinen Schweiß zu riechen und ihn mit brüchiger Stimme »Brot für die Arbeiter!« rufen zu hören. Doch der Kosak ragte drohend vor ihnen auf. Der Säbel schwang hoch empor, vor dem grauen Regen der Schneeflocken glänzend – und sauste nieder wie ein rasant abwärts gestrichener Geigenbogen, meisterhaft, präzise, perfekt.
In Schultern und Nacken getroffen, sackte der Junge ohne einen Ton zusammen. Blut schoss aus seinem Mund und besudelte seine Zähne. Binnen Sekunden hatte die Menge ihn umzingelt, und sein Körper war nicht mehr zu sehen. Doch da hatte Dmitri bereits die Flucht ergriffen und drängelte sich durch die Menge der schreiendenFrauen und fluchenden Soldaten, der Jungs mit Steinschleudern und der völlig verängstigten Mädchen.
In einer menschenleeren Gasse blieb er schließlich stehen. Er hockte sich hinter einen Stapel Lattenkisten und presste das Gesicht gegen die faulenden Bretter. Von seinem Versteck aus hörte er das laute Wummern einer Trommel. Wo kam es her? Es dauerte ein paar Minuten, bis er begriff, dass es das Hämmern seines eigenen, zu Tode erschrockenen Herzens war. Er lehnte sich an die Wand aus Holz, und aus seinem Mund kam ein hoher, klagender Ton wie von einer Flöte.
Er blieb dort, bis ihm die Kälte durch Überschuhe und Socken drang und seine Beine hochwanderte. Als er sich aufgerappelt hatte, konnte er sich kaum noch bewegen. Er wischte sich die Wangen ab und setzte die Mütze wieder auf, bevor er um die Ecke der Gasse spähte und überlegte, welchen Weg er nehmen sollte. Der Kompositionslehreunterricht war vielleicht trotz des Chaos, das Petrograd heimgesucht hatte, noch nicht zu Ende. Er warf einen Blick zurück zum Newski-Prospekt, wo der Himmel voller Rauch war. »Dieses oder nächstes Jahr oder in zehn Jahren«, versprach er dem toten Jungen, »werde ich deine Geschichte vertonen. Du bekommst deinen Trauermarsch. Ich werde es nicht vergessen.«
Der Versuch zu lügen
Elias langweilte sich. In gewisser Hinsicht wunderte er sich darüber: Wie konnte er sich in einer Stadt, die in einen regelrechten Aktionismus verfallen war, derart angeödet fühlen? An den Rändern von Leningrad waren Gräben ausgehoben worden; in der Stadt wurden Bunker gebaut und Gewehre auf Dächern in Stellung gebracht. An diesem Morgen war er an einigen Männern
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