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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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vorbeigekommen, die um den Sockel einer großen Statue die Erde aufgruben, während andere, ameisengleich, Holzplankenherbeischleppten. Hatten sie vor, einen hölzernen Schutz für die Statue zu errichten? Rechneten sie mit Plünderungen – oder Bomben? Elias hatte sich nicht zu fragen getraut und war eilig weitergegangen. Er kam sich vor wie ein Drückeberger und ein Idiot.
    Da saß er nun, in dem vertrauten Zimmer mit der niedrigen Decke, und hörte der eintönigen Stimme seiner Mutter zu, während die Angst aus den offenen Gullis sickerte und die Marktplätze und Trinkhallen überschwemmte. Und dennoch glaubte er, sein Gesicht müsse vom vielen Gähnen Risse bekommen und vom Druck seiner Langeweile hätte er bald blutunterlaufene Augen.
    »Der Juni hat mir schon immer Angst gemacht. Alles Schlechte passiert im Juni.« Seine Mutter schaukelte mit ihrem Stuhl, der jedoch nicht dazu gedacht war; die Beine klopften unrhythmisch auf den Boden. »Dein Onkel Peter ist im Juni gestorben, ebenso deine Tante Ester. Dein guter Vater ist einem Juni-Tod nur um vierundzwanzig Stunden entgangen. Und nun – nun haben wir einen Juni-Krieg am Hals!« Dieser letzte Missstand veranlasste sie zu gefährlich heftigem Schaukeln.
    »Mutter«, sagte Elias, »ich weiß nicht, ob du es schon bemerkt hast, aber dein Stuhl hat keine Schaukelvorrichtung. Du bist eben fast hinten übergekippt.« Und auf jeden Fall völlig übergeschnappt, hätte er am liebsten hinzugefügt. Meinte sie im Ernst, Hitler und seine Luftwaffe richteten sich zeitlich nach ihrem Aberglauben?
    Seine Mutter ging gar nicht darauf ein. »Sobald der Juni kommt, werde ich nervös. Und halte den Atem an, bis er wieder vorbei ist. Der ganze Ärger fing mit der Einführung des gregorianischen Kalenders an. All dieses Hin und Her, der Pfusch mit Daten und Namen. Das war nicht gut für die Stabilität.«
    »Ja, Mutter, geben wir Lenin die Schuld. Er ist ein guter Sündenbock für so vieles – warum nicht auch für diesen Schlamassel?«
    »Karl! Kein Russe darf für diesen Krieg verantwortlich gemacht werden! Wie kannst du so etwas sagen.« Sie sah aus, als wollte sie ihm am liebsten den Mund mit Seife auswaschen, wie sie es getan hatte, als er acht war und seine Tante als Fresssack bezeichnete, weil sie die ganze wöchentliche Kuchenration auf einmal weggeputzt hatte.
    »Wir müssen mit diesem Gezänk aufhören.« Er holte tief Luft. »Keiner weiß, was die Zukunft bringt. Aber ich mache mir natürlich Sorgen um dich. Auf dem Heimweg von der Arbeit habe ich ein paar Erkundigungen über die Evakuierungspolitik eingezogen. Es heißt –« Er zwang sich weiterzureden. »Es soll vielleicht Züge geben, die ältere Menschen schon nächste Woche aus Leningrad fortbringen.«
    Auf einmal wurde es still, so still, dass er die Knorpel in seinem müden Hals knacken hörte. »Es ist das Beste«, sagte er. »Das siehst du doch sicher ein.«
    Seine Mutter sah zugleich tief erschrocken und rebellisch aus. Er stand auf und legte die Arme um sie. So nah war er ihr schon lange nicht mehr gewesen; ihr Körper fühlte sich wie eine ungleichmäßig gestopfte Matratze an, die Schultern eingesunken, der Rumpf schwer. Beim Geruch ihrer feuchten, faltigen Haut wurde ihm schwach vor schlechtem Gewissen und Angst.
    »Ich gehe auf keinen Fall von dir fort.« Sie klammerte sich an ihn. »Wir müssen um jeden Preis zusammenbleiben. Wir sind doch eine Familie.«
    »Wir sind jetzt Teil einer größeren Familie.« Das klang selbst in seinen eigenen Ohren wie der Text eines Propagandaplakats. »Wir sind alle Bürger Leningrads, und von dieser vereinten Kraft müssen wir zehren.«
    Seine Mutter sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Wir haben niemanden außer uns, du dummer Junge! Nichts als dies hier!« Sie zeigte auf die verblichene Jalousie, die Regale, die sich unter den Partiturstapeln bogen, das zusammengewürfelte Geschirr. »Das ist unser Zuhause, und ich werde es nicht verlassen. Unter keinen Umständen.«
    Elias hatte sich noch nie zurückhalten können, unliebsame Tatsachen auszusprechen. (»Wie willst du je eine Frau umgarnen, wenn du unfähig bist, Komplimente zu machen?«, hatte seine Mutter ihn öfter als einmal gefragt.) »Vielleicht wird es schon bald nicht mehr wie unser Zuhause aussehen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Unsere Stadt ist aufgrund ihrer geographischen Lage gefährdet. Wenn die Deutschen vom Westen her angreifen und die Finnen von Nordosten, sind wir nicht nur

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