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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Schostakowitsch lachen. »Tatsachen hin oder her, ich werde es noch einmal versuchen. Der Termin für einen zweiten Sehtest ist schon vereinbart.«
    »Ich habe nichts anderes von dir erwartet.« Sollertinski schenkte sich Branntwein nach. »Deine extreme Dickköpfigkeit verlangt nach einem weiteren Toast.«
    »Als ob du einen Vorwand brauchtest! Du bringst doch einen Toast so leicht aus, wie ein Hund furzt.« Das war ein dürftiger Witz und unnötig scharf dazu. Aber es fiel ihm schwerer als sonst, im Fluss der Schlagfertigkeitenmitzuschwimmen. So vertraut es war, am gewohnten Tisch zu sitzen und mit seinem alten Freund zu plänkeln, irgendwie kam es ihm falsch vor.
    »Nicht ganz auf der Höhe? Dein Geist wirkt heute ein bisschen träge.« Trotz zahlreicher Gläser Branntwein schien Sollertinski die Stimmung seines Freundes nicht entgangen zu sein.
    »Du bist ja auch im Vorteil«, antwortete Schostakowitsch. »Du hast alle Zeit der Welt, deinen Geist zu schärfen, weil du kaum etwas anderes tust.« Auch das klang giftiger, als es gemeint war. Doch Sollertinski, der Witze riss und das wachsende Chaos in den Straßen anscheinend außer Acht zu lassen vermochte, weckte seinen Neid – und machte ihm angst. Wollte er wirklich auf Gedeih und Verderb in einen brutalen, blutigen Kampf ziehen?
    Sollertinski ignorierte die Beleidigung. Er stieß Schostakowitsch den Ellbogen in die Rippen und zeigte aus dem Fenster. »Guck mal.«
    Zu sehen war Karl Eliasberg, der, seine Schweinsledermappe fest in der Hand, über den kopfsteingepflasterten Marktplatz ging. Als hätte er gemerkt, dass er beobachtet wurde, beschleunigte er seinen Schritt und warf die Beine in beinahe militärischer Manier nach vorn.
    »Es heißt«, sagte Sollertinski sinnierend, »Eliasberg laufe schon sein Leben lang so herum.«
    »Was, wie ein Soldat?«
    »Nein«, gluckste Sollertinski. »Wie ein Arsch mit Ohren.«
    Plötzlich flog die Tür mit solcher Wucht auf, dass die Fenster zitterten und die Mittagstrinker alarmiert aufblickten. Vom Licht umrahmt, stand ein junger Mann mit zottigem Bart da. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen erschreckend blau.
    »Wer ist das denn?« Schostakowitsch war beunruhigt.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte Sollertinski, der mit der Flasche in der Hand mitten im Lachen innegehalten hatte.
    »Es geht los.« Die Stimme des jungen Mannes war rau, das Todeskrächzen eines Raben. »Jetzt ist alles aus.«
    Sollertinski knallte die Flasche auf den Tisch, sodass ein Schwall Branntwein im hohen Bogen durch die Luft flog. »Was ist passiert?«
    »Der Wolchow-Kessel ist durchbrochen worden«, verkündete der junge Mann. »General Wlassow wurde gefangen genommen. Die Deutschen rücken an die Luga vor und werden in ein paar Tagen keine hundertfünfzig Kilometer von unseren Toren entfernt stehen. Wir sind verloren.«
Die Wahrheit über Nina Warsar
    Einmal war Schostakowitsch auf einer Straße der untergehenden Sonne entgegengelaufen und hatte geglaubt, er ginge auf das Ende seines Lebens zu. Das tiefe, orange gleißende Licht, die Silhouetten der Laternenpfähle: All das wirkte so seltsam; er hatte sich einfach nicht vorstellen können, dass dahinter noch etwas kam. Doch seine Füße bewegten sich weiter, auf und nieder, wie die Sonne selbst. Und bald nahm die Welt wieder ihre gewohnten Formen an, zwischen dem Alltäglichen und dem Dramatischen schwankend.
    Er erinnerte sich an diesen Abend wie an einen Traum, empfand dabei die grimmige Sehnsucht eines Soldaten, der die Fäuste ballt und sich vorstellt, in Sicherheit, zu Hause zu sein. Eine Sekunde lang hatte sich ihm die Welt geöffnet. Er hätte hindurchgehen und alles hinter sich lassen können, die permanenten Bedürfnisse des Körpers, den nie endenden Erfolgsdruck. Den Druck, der Beste zu sein, Chopins dritte Ballade zarter und Beethovens Appassionata brillanter zu spielen, als sie je gespielt worden waren – und dann, wenn das Publikum längst gegangen war, am Klavier sitzen zu bleiben, um ein Werk zu komponieren, das Chopin wie Beethoven in den Schatten stellen würde.
    Es war eine Fluchtphantasie gewesen. Und erst als er Nina kennenlernte, konnte er ganz aufrichtig sagen, dass er froh war, an jenem unheimlichen Abend nicht vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Froh, dass die Sonne unter den Horizont gedrückt und er selbst den gewohnten Straßen Leningrads zurückgegeben worden war, ein wenig außer Atem, außer sich, erleichtert, enttäuscht, verstimmt.
    Was ihm als erstes an

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