Dirigent
Nina Warsar auffiel, war ihre unbändige Intelligenz und ihr Mangel an Ehrerbietung. Wie sehr er diese Ehrerbietung bereits leid war! Er war es so leid, hinter jedem Gesicht nach der Wahrheit zu suchen, in den Foyers der Konzertsäle zu stehen und sich die ewigen Beifallsbekundungen seiner Bekannten anzuhören – Dmitri Dmitrijewitsch! Erlauben Sie mir, Ihnen meine Hochachtung auszusprechen!
Hinter Ninas blassem Gesicht verbarg sich anscheinend nichts als Gleichgültigkeit gegenüber seinem Ruf. Sie sprach über die Musik anderer Männer, aber nicht über seine, äußerte ihre Meinung über andere Leute, ohne sich darum zu scheren, was diese von ihr dachten. Nach all den hübschen, affektierten Mädchen, die sich normalerweise um ihn scharten, zu laut über seine Witze lachten, ihn bedrängten und ihm die Luft zum Atmen nahmen, fand Schostakowitsch sie unwiderstehlich. Gegen Ende der Feier bei den Steinbergs hatte er sie, ein wenig betrunken, hinter einen Vorhang gezogen und geküsst. Das leise Klacken, als ihre etwas schiefen Zähne gegen seine stießen! Die Hitze ihres Atems! Noch jetzt, viele Jahre später, erregte ihn die Erinnerung daran. Die samtene Dunkelheit, die kühle Fensterscheibe, die Schärfe von Ninas Intelligenz: All das ließ ihn spüren, dass er vor allem ein Mann war und erst in zweiter Linie ein Komponist. Vor Erleichterung darüber, die offizielle Maske ablegen zu können, traten ihm Tränen in die Augen. Sobald sie in den überfüllten Raum zurückgekehrt waren, hatte er sichentschuldigt und war ins Badezimmer gegangen, um mit leicht zitternden Händen seine Brille zu säubern.
Ihr »Ja«, als sie endlich einwilligte, ihn zu heiraten, hatte die Klarheit eines Oboentons gehabt. Während der Frühlingsregen am Fenster hinunterlief, hatte er den Kopf auf dem Kissen zu ihr gedreht und ihre gemeinsame Zukunft gehört. Da war sie, eine Reihe von Arpeggios, mit stürmischer Unbeirrbarkeit an- und absteigend.
»Dmitri?«, hatte sie gesagt. »Woran denkst du?« Aber er konnte es nicht erklären, konnte nur stammeln, wie glücklich er sei, während die wilde Musik in ihm sich mit dem Regen mischte. Als die Streitereien begannen – mitsamt an der Wand zerschellenden Tellern und in der Küche deckungsuchenden Bediensteten –, glichen die Geräusche eher dem Krach von Schlagbecken und Rührtrommeln.
»Dass du ein begabter Komponist bist«, sagte Nina zum Beispiel und warf sich ihren Mantel über, »macht dich noch lange nicht zu einem begabten Ehemann. Und dass du von den Menschen geliebt wirst, noch lange nicht liebenswert.« Dann stürmte sie aus dem Haus und suchte Zuflucht in ihrem von gelbem flackerndem Licht erleuchteten Labor. Oft blieb sie die ganze Nacht dort, wo sie mit Kollegen zusammen arbeitete, die über Physik redeten, anstatt sich über häusliche Unordnung oder zu viel Lärm zu beschweren. Wenn sie am Morgen zurückkehrte, sprach sie kein Wort mit ihm. Von der Anstrengung, die es ihn kostete, ebenfalls zu schweigen, um seinen Stolz zu bewahren, tat ihm der Hals weh und seine Augen fingen an zu brennen.
Nach ihrer langen Trennung, noch vor der Geburt der Kinder, hatte es Nächte gegeben, in denen er nicht mehr damit gerechnet hatte, ihren Schlüssel in der Tür zu hören. Er versuchte gar nicht erst zu schlafen, sondern saß trübsinnig über seiner Orchestrierung und trommelte mit dem Bleistift auf den Schreibtisch, damit es nicht so stillwar. Er hörte nicht mehr, was er schrieb. Die Notensequenzen waren verstockt, bevor sie überhaupt die Linien erreichten, sie weigerten sich, einzeln zu sprechen oder zusammenzuwirken. In Ruhetakten wartete er ohne Hoffnung auf Ninas Schritte.
»Ich kann ohne dich nicht leben«, sagte er, nachdem er zwei Stunden lang vor dem Labor herumgelungert hatte, bis sie endlich ihren Arbeitsplatz verließ. Das stimmte – wie konnte ein Mann ohne Schlaf leben, wie ein Komponist ohne Klang weiter komponieren? Sein Spiegelbild in der gläsernen Labortür sah furchtbar aus; von den vergeudeten Arbeitsnächten und den allein auf einer einsamen Matratze durchwachten Vormittagen hatte er rot geränderte Augen.
Nina sah ihn ohne eine Spur von Zärtlichkeit an. »Ich komme zu dir zurück, aber nur unter meinen Bedingungen.«
Das Packeis in seinem Kopf brach, und er konnte wieder hören. Der weiche Regen dellte den Boden ein, die Ledersohlen seiner Schuhe schmatzten. »Ich kann wieder arbeiten!«, sagte er erleichtert. Und als er in seinem durchnässten Mantel so
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