Dirigent
abgeschnitten, sondern auch eingesperrt. Dann sitzen wir in unseren eigenen Häusern und Wohnungen in der Falle. Was für ein Trost sind dir dann deine Porzellanteller?«
»Aber unsere Armee ist so stark«, entgegnete seine Mutter mit zittriger Stimme. »Unsere Männer werden die Deutschen doch wohl aufhalten und unser Eigentum beschützen können?« Sie blickte nervös zur Tür, als könnten jeden Moment Nazisoldaten hereinstürmen und die Vitrine abtransportieren, die Elias’ Vater gebaut hatte, um seine schönsten Schuhe auszustellen.
Elias trat ans Regal und tat so, als suchte er nach einem Buch. Er ertrug den Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht länger. Was auch immer in den vor ihnen liegenden Monaten passierte – er spürte, dass er irgendwann von ihrem Gesicht verfolgt werden würde.
»Vielleicht beschützen sie uns ja wirklich«, sagte er und räusperte sich. Näher vermochte er einer Lüge nicht zu kommen.
Branntwein, Gespräche und der zwölfte Juli
Zigarettenrauch und gedämpfte Stimmen durchzogen die Luft. Schostakowitsch saß da und starrte auf einen langen Riss in der Tischplatte. »Ich begreife nicht, warum sie mich abgelehnt haben. Wie konnten sie nur?«
»Weil sie nicht möchten«, meinte Sollertinski, »dasseiner der begabtesten Söhne Russlands über den Haufen geschossen wird?«
»Nur wegen meiner Kurzsichtigkeit!«, grummelte Schostakowitsch. Er nahm die Brille ab und versuchte die Schlagzeile von Sollertinskis Prawda zu entziffern. Aber die Zeichen waren ungebärdig und rutschten an den Rand seines Blickfelds. »Ev-«, las er. »Al-.« Es war, als wollte er Rauchkringel einfangen. Sobald er die Brille wieder auf der Nase hatte, sprangen die Buchstaben in geordnete, lesbare Reihen. Evakuierung von Leningrads Kindern und Alten geplant.
Er warf die Zeitung beiseite. »Wenn die Hälfte der Einwohner weg ist, wird die andere Hälfte zum Kämpfen gebraucht. Ich bewerbe mich einfach noch mal. Solche Idioten, dass sie mich zweimal ablehnen, werden sie ja wohl nicht sein.«
»Der Idiot bist du«, sagte Sollertinski. »Wozu soll es gut sein, dich mit einem Gewehr rumlaufen zu lassen? Du könntest doch nicht mal einen Omnibus aus drei Metern Entfernung treffen, von einem Deutschen ganz zu schweigen. Überlass das denen, die zum Militärdienst taugen, und wir leisten derweil unseren eigenen Beitrag. In Zeiten des Unfriedens gibt es für Kulturschaffende genug zu tun.« Er nahm einen großen Schluck Branntwein, und Schostakowitsch wusste schon, was nun folgte: die Geschichte von dem Flügel – »einem erstklassiger Koch« –, der einmal vor Sollertinskis Augen aus einem bürgerlichen Haushalt gezerrt und auf einen Lastwagen gewuchtet worden war. »Woraufhin ich, keinen Tag älter als vierzehn, gleich hinterhergehievt wurde«, erzählte Sollertinski, »und Gesellschaft von einer achtzehnjährigen Sängerin namens Ljudmila bekam. Dann wurden wir alle drei – die singende Schönheit, das Klavier und ich – zum Militärhauptquartier gefahren, wo wir uns das Herz aus dem Leib musizierten und so unser kulturelles Wissen und Können einsetzten, um Mütterchen Russlands Moral zu heben.«
An den benachbarten Tischen wurde geklatscht und mit den Gläsern angestoßen. Obwohl er die Geschichte schon kannte, stimmte Schostakowitsch in den Beifall ein. »Auf die wohlausgestattete Ljudmila und den mächtigen Arm des Künstlers.«
»Auf Ljudmila«, wiederholte Sollertinski mit verträumtem Blick. »Nicht nur stimmlich eine Pracht.« Er bedeutete dem Wirt, ihnen noch eine Flasche zu bringen. »Wir haben viel zu besprechen«, sagte er, als brauchte er einen Vorwand.
»Und du hast deinen Standpunkt ausreichend klargemacht.« Schostakowitsch lehnte sich trotzig auf seinem Stuhl zurück. »Dennoch bin ich nicht überzeugt, dass ein Künstler nicht auch ein Mann der Tat sein kann. Wenjamin Fleischmann zum Beispiel. Er ist bereits in die Garde des Kuibyschew-Bezirks aufgenommen worden.«
»Fleischmanns Talent ist nicht erwiesen«, sagte Sollertinski achselzuckend. »Er ist Student. Bisher wurde noch nichts von ihm veröffentlicht, nichts aufgeführt. Außerdem trägt er keine ärztlich verordnete Brille.«
»Er hat bereits den Anfang einer erstklassigen Oper zu Papier gebracht. Rothschilds Geige wird dereinst in den besten Konzertsälen der Welt gespielt werden.«
»Und du wirst eines Tages den Tatsachen ins Auge sehen müssen. Du bist zu blind fürs Schlachtfeld, und ich bin zu fett.«
Wider Willen musste
Weitere Kostenlose Bücher