Dirigent
sein – unzureichend bewaffnet und ausgebildet, mangelhaft ausgestattet und, nachdem Tuchatschewski und andere erfahrene Generäle der Säuberung zum Opfer gefallen waren, auch führungslos –, nun, eine solche Anspielung reichte womöglich schon, damit die Kröte quakend zum Kreml hüpfte.
»Sie haben ja so recht.« Boris interpretierte seine Worte positiv. »Wir sind nichts als Ziegelsteine und Mörtel in der großen Mauer der Nationalkultur.«
Schostakowitsch schauderte. Es gab keinen Grund der Welt, solche Empfindungen zu formulieren, wenn einemnicht gerade eine Gefängnisstrafe oder Schlimmeres drohte. »Ein kümmerlicher Haufen Ziegel«, sagte er mit einem Seitenblick auf ihre Mitstreiter. Einige waren noch dabei, halbherzig weiterzugraben, aber die meisten hatten ihr Werkzeug hingeworfen und hockten, in ernste Gespräche vertieft, im Schatten. Ebenso gut hätten sie in einem Restaurant sitzen können, dachte er, oder im Lehrerzimmer des Konservatoriums. Beim Anblick von Horowitz, der mit seinen mickrigen weißen Armen fuchtelte, als hielte er eine Vorlesung über Orchestrierungsarten im neunzehnten Jahrhundert, und von Possochows mageren Knöcheln, die unter seiner Anzughose hervorschauten, wurde ihm bang ums Herz. Boris hatte recht. Diese Männer gehörten in Konzert- und Hörsäle. Zur Verteidigung des Landes taugten sie so wenig wie Kleinkinder.
Ein junger Offizier trat zu ihnen. »Was ist hier los? Warum vergeuden Sie Zeit mit sinnlosem Geschwätz?« Seine Stimme hatte nur einen dünnen Anstrich von Autorität. Mit seinem glatten Kinn und den runden blauen Augen schien er jung genug, um einer ihrer Söhne zu sein. »Nun?«, blaffte er sie an.
Boris lächelte schmeichlerisch. »Wir haben über Genosse Schostakowitschs musikalischen Beitrag zu diesem vermaledeiten Krieg gesprochen. Er wollte gerade ausführen, woran er derzeit arbeitet.« Er warf Schostakowitsch einen raschen Blick zu. Jetzt wirst du es mir erzählen müssen! , besagte sein verräterisches Lächeln.
Der Offizier erschrak, als er Schostakowitschs Namen hörte, und sein rechter Arm zuckte, als unterdrückte er einen Gruß. Doch er war darin geschult, individuelle Attribute zugunsten der größeren Sache der Partei und des Landes zu übersehen. »Wir sind nicht hier, um uns über Musik zu unterhalten, sondern um zu arbeiten! Der Graben muss bis heute Abend die Krankenhausmauern erreicht haben, und ehe das nicht geschafft ist, gehen wir hier nicht weg.«
Boris neigte gehorsam den Kopf, doch sobald der Offizier ihnen den Rücken zukehrte, zwinkerte er. »Mag ja sein, dass wir hier den Boden aushöhlen«, flüsterte er. »Aber wir füllen ihn mit Zeit auf, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er schlitterte in den flachen Graben hinein und hieb mit seinem Spaten auf den steinharten Boden. Ein wenig Erde, nicht einmal genug, um einen Fingerhut zu füllen, rieselte ihm über die geborgten Stiefel.
Der Offizier wandte sich noch einmal zu Schostakowitsch um. Er machte den Mund auf, doch was auch immer für eine hilflose Entschuldigung er vorbringen wollte, ging im Getöse plötzlich ausbrechender Marschmusik unter. Ein Trupp Männer kam, in Dreierreihen, schwankend um die Ecke des Forelli-Krankenhauses marschiert. Einige trugen fadenscheinige Uniformen, die meisten jedoch ihre eigenen dicken Hosen und Jacken.
»Freiwillige aus dem Kuibyschew-Bezirk. Schauen Sie sich die an.« Erneut verriet die Stimme des Offiziers einen Mischmasch aus Gefühlen: Verachtung war dabei, aber auch ein gewisses Mitleid.
Schostakowitsch starrte die zerlumpten Männer an. »Die sind ja kaum bewaffnet! Gerade mal ein Gewehr für fünf Mann!«
Der junge Offizier schwieg. Vielleicht war er nicht bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, indem er die Entscheidung kommentierte, Männer mit selbstgemachten Hämmern und Schwertern aus eingeschmolzenen Druckmaschinen an die Front zu schicken.
Die Freiwilligen marschierten weiter, die Augen streng geradeaus gerichtet. Als sich die letzte Reihe näherte, ließ Schostakowitsch seinen Spaten fallen und schnellte vor.
»Fleischmann? Sind Sie das?«
Der Mann am Ende der Reihe drehte sich um, und ein flüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Er hob den Arm zum Gruß und marschierte weiter.
»Fleischmann! Halt!« Schostakowitsch machte einenzwecklosen Schritt vorwärts. Der Graben zwischen ihnen war schmal, aber unüberbrückbar: Der eine war Zivilist, der andere zum Soldaten geworden.
»Ich kenne ihn!«, rief er, an den
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