Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
Boris wieder los, seine Stimme schlug zu wie die Spitzhacken um sie herum. »Ihre Arroganz behindert Ihre Musik ... Ihr Ego ist größer als das, was Sie schreiben ...« Und erneut hörte Schostakowitsch jene Tonfolge.
    Pizzicato, das war’s! Ein Pizzicato-Refrain, der sich aus einer melancholischen e-Moll-Melodie erhob wie eine Marionette aus einem Haufen Spielzeug. Unsichtbare Hände zogen (langsam, unerbittlich) an den Fäden, bis die Marionette marschierte. Die hölzerne Tonfolge sprang von den Streichern auf die Holzbläser über und kämpfte in ständiger Wiederholung gegen die Rührtrommeln. »Idiotisch«, ertönte Boris’ Stimme aus dem wachsenden Lärm. »Anmaßend. Epigonal.«
    »Genau!«, brach es aus Schostakowitsch heraus. »Sie haben recht! Die Themen des Faschismus. Es wird ein Faschistenmarsch.« Als er seine Brille wieder aufsetzte, sah er das Krötengesicht mit einem Schlag wieder scharf.
    »Was haben Sie gesagt?« Boris funkelte ihn an. »Haben Sie mich einen Faschisten genannt?«
    »Aber nicht doch, mein lieber Boris!« Schostakowitsch glühte vor Erregung. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Sie waren mir noch nie sympathischer! Haben Sie einen Stift dabei? Ich fürchte, ich habe meinen beim Graben fallen gelassen.«
    Boris steckte eine Hand in seine unförmige Hose und holte einen kleinen Bleistiftstummel hervor. »Hier. Aber bitte denken Sie daran, ihn mir wiederzugeben. Er ist noch nicht abgenutzt.«
    »Natürlich, mein Guter. Klug von Ihnen, in diesen unsicheren Zeiten auf Ihre Sachen achtzugeben. Man weiß nie, wo man den nächsten Bleistift herbekommt. Vielleicht werden die Bleistifte unseres ganzen Volkes noch zu Befestigungszwecken beschlagnahmt.«
    Boris wirkte perplex und verstummte. Schostakowitsch sah sich nach dem Offizier um, der gerade einen geachteten Musikhistoriker maßregelte, weil er, an einen Handwagen gelehnt, dasaß und las. Verstohlen kritzelte Schostakowitsch ein paar Takte auf die Rückseite von Fleischmanns Manuskript. Der Bleistift war zwar so stumpf wie Boris’ Verstand und schrieb so schlecht, wie der Mann Klavier spielte – aber er erfüllte seinen Zweck. Die Melodie war auf Papier gebannt!
    Er sehnte sich nach dem Abend, danach, dass der vorwärtskriechende Graben das Krankenhausgelände erreichen und der Offizier seine unfähigen Freiwilligen entlassen würde. Sobald er nach Hause kam, würde er anfangen zu schreiben.
Rückwärts zählen
    Wieder einmal war Nikolai aus Sonjas Zimmer ausgesperrt. Er saß da und starrte auf die vertrauten Konturen der Tür, den Riss, der entstanden war, als Sonja ihren Überschuh dagegen gepfeffert hatte, und den poliertenGriff mit der Warnung: Betreten verboten! Du bist hier unerwünscht.
    Nikolai gehorchte, obwohl er sich jeder Minute, die auf der Küchenuhr vorübertickte, verzweifelt bewusst war. Sechzig Minuten. Neunundfünfzig, achtundfünfzig, siebenundfünfzig. Er kaute an seinem Daumennagel und wischte Blut vom Tischtuch. »Sonja! Wie kommst du da drinnen voran?« Es sollte beiläufig klingen, doch seine Stimme brach.
    Hinter der Tür blieb es still. In der vergangenen Woche war Sonja immer schweigsamer geworden, war ihr Geplapper versiegt wie ein Bach im Sommer. Wortlos hatte sie Nikolai beim Zwiebelschneiden zugesehen und ihn dabei so eingehend gemustert, dass er ganz nervös geworden war.
    »Möchtest du die Eier aufschlagen?«, hatte er sie gefragt. »Du weißt, wie ungeschickt ich mich dabei anstelle.«
    Die Augen in ihrem runden Gesicht waren unergründlich wie schwarze Kiesel. Sie schüttelte den Kopf und schaute zu, wie er ein Ei aufschlug, dabei die Daumen hineinsteckte, Schale in das Eigelb drückte. »Siehst du?«, sagte er. »Du hättest es machen sollen.«
    Sie hatte in die Schüssel gespäht, eine Gabel genommen und die Schalenstückchen herausgefischt. Aber gesagt hatte sie nichts.
    Mit der Höflichkeit zweier Fremder setzten sie sich an den Tisch. Sonja rutschte behutsam mit ihrem Stuhl herum, bis sie die Sitzfläche genau parallel zur Tischkante gerückt hatte. Als sie zufrieden war, nickte sie leicht. »Wie schade, dass Tante Tanja nicht hier sein kann«, sagte sie und schob ihr Wasserglas ein winziges Stück zur Seite.
    »Sie könnte bestimmt mal ein anständiges Essen vertragen«, sagte Nikolai. »Weiß Gott, wovon sie dieser Tage lebt. Kohl und Wasser wahrscheinlich.«
    Seit zwei Wochen arbeitete Tanja in einer Befestigungsbrigade im Südosten Leningrads, schlief auf Stroh undhieb zwölf Stunden am Tag

Weitere Kostenlose Bücher